Editorial

Räuberische Grauzonen

(28.02.2023) Selbst mit jahrezehnte­langer Erfahrung können Forscher unerfreuliche Publikationserfahrungen machen. Ein Fallbeispiel aus Saarbrücken.
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Im Mai 2022 reichte die Arbeitsgruppe um Karin Römisch, seit 2009 Professorin für Mikrobiologie an der Universität des Saarlandes, ihr neuestes Manuskript zur Qualitäts­kontrolle sekretorischer Proteine in Saccharo­myces cerevisiae im Open-Access-Journal Cellular Microbiology (CMI) ein. Zwar fiel der Arbeits­gruppen­leiterin auf, dass das Journal Editorial Board niemanden enthielt, den sie kannte. Aber schließlich steht das US-Verlagshaus John Wiley & Sons mit allein im Jahr 2022 über 250.000 publizierten Artikeln für Seriosität. Auch bestätigten Römischs Mitautoren um Tamara Doering von der Washington University in St. Louis die Reputation des Journals.

Vier Wochen später erhielten sie von CMIs Academic Editor Sanket Kaushik eine Einschätzung ihres Manuskripts. Allerdings basierte sie unüb­licherweise nur auf einem anstelle von zwei bis drei Peer-Review-Gutachten. Aber Hand aufs Herz: Wer freut sich nicht über eine positive Evaluierung der eigenen Forschung? Also ergänzten die Mikro­biologinnen ihr Manuskript um ein erbetenes Experiment und reichten es im September 2022 erneut ein. Einen Monat später war es akzeptiert. Römisch zahlte die Article Processing Charges (APC) in Höhe von 2.175 US-Dollar. Der Rest war Formsache.

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Zugriff eingeschränkt

Eigentlich. Römisch erinnert sich: „CMI produzierte dann Page Proofs, in denen unsere Abbildungen verhunzt waren. Als ich versuchte, sie über die Journal-Website zu korrigieren, hatten wir plötzlich keinen Zugriff mehr auf die Korrektur­funktionen. Das erklärten wir mehrfach gegenüber verschiedenen Handling Editors und schrieben irgendwann selbst alle acht Personen in CMIs Editorial Board an“. Doch als Antwort erhielten die Saarbrücker stets nur die gleiche, automatisch generierte E-Mail, das Manuskript endlich zu korrigieren, oder sie wurden von einem zum nächsten CMI-Mitarbeiter verwiesen. Niemand im Editorial Board war erreichbar und die Webseite ihres Manuskripts blieb eingefroren.

Also zogen Römisch und Doering Konsequenzen und ihr Manuskript zurück. Das Journal bestätigte zwar die Retraktion, doch die Rück­erstattung der Publikations­gebühren bereite ihnen Schwierigkeiten: „CMI behauptete, unsere Kontodaten resultierten beim Überweisungs­versuch in einer Error Message. Auch mit den Kontodaten unserer US-Mitautoren blieb das Resultat dasselbe: Unser Geld wurde nicht erstattet. In 35 Jahren Publikations­historie ist mir solch ein Betrug noch nicht untergekommen.“

Wolf im Schafspelz?

Waren die Saarbrücker Mikro­biologen auf ein Predatory Journal herein­gefallen, das es nur auf Artikel­gebühren abgesehen hat? Was eine Fachzeitschrift im Detail zu einem räuberischen Journal macht, erklärte Laborjournal online bereits 2020 im Artikel „Im Raubtier­gehege der Wissenschaft“. Römisch erkundigte sich bei früheren Editorial Board Members von Cellular Microbiology und erfuhr: Das Fachmagazin wird nicht länger von Wiley, sondern von Hindawi heraus­gegeben. Die letzte Wiley-Ausgabe stammte aus Dezember 2021. Erschienen bis dahin etwa 150 Artikel pro Jahr, waren es 2022 insgesamt nur 27 Publikationen.

Ein Fokus auf Qualität anstelle von Quantität ist natürlich nichts Schlechtes. Was Hindawis Website für CMI allerdings nicht verrät: Keine der 27 CMI-Publikationen 2022 findet sich bei PubMed. Denn das Journal scheint nicht länger PubMed-akkreditiert zu sein. Römisch erklärt: „Natürlich wäre es für uns ein Ausschluss­kriterium gewesen, wenn wir das gewusst hätten.“ Schließlich ist die Literatur­datenbank in der Biomedizin die Anlaufstelle Nr. 1 auf der Suche nach wissen­schaftlicher Information.

Erfolgsgeschichte …

Ein Blick auf Hindawis Vorgeschichte: Der 1997 von der Mathematikerin Nagwa Abdel-Mottaleb und ihrem Ehemann, dem Physiker Ahmed Hindawi, in Kairo gegründete Verlag erfreute sich von Anfang an eines explosiven Wachstums. Mit einer einzigen Fachzeitschrift gestartet, gehörten dem Herausgeber zehn Jahre später bereits einhundert Journale mit 220 Mitarbeitern. Kurz nach der Jahr­tausend­wende erzielte Hindawi Einnahmen von 6,3 Millionen US-Dollar bei einem Profit von 3,3 Millionen US-Dollar. Derartige Umsatz­renditen übertreffen selbst die Gewinn­spannen westlicher Verlage wie Elsevier und Wiley von regelmäßig 30 bis 40 Prozent.

Im Februar 2007 stellte Hindawi komplett auf Open Access als Geschäfts­modell um, verdreifachte in den Folgejahren seine Journalzahl, verlegte seine Haupt­geschäfts­stelle 2013 nach London und verzehn­fachte die Anzahl heraus­gegebener Artikel. Im Jahr 2022 brachte der Verlag 43.256 Publikationen in 272 Journalen heraus. Damit ist er nach MDPI, Frontiers, Springer Nature und Elsevier weltweit der fünftumsatz­stärkste OA-Verlag. Insgesamt 242 seiner Journale sind im DOAJ indexiert, 207 bei Scopus und 38 bei Medline. Zusätzlich verfügen 64 Fachzeit­schriften über einen Impact-Faktor.

… mit Fragezeichen

Doch die Erfolgs­geschichte hat Schattenseiten: In den letzten zehn Jahren fiel dem Team von Retraction Watch der Verlag 519-mal negativ auf. Schon 2010 tauchte es kurzzeitig auf der vom ehemaligen US-Bibliothekar Jeffrey Beall kuratierten Liste „of potential, possible, or probable predatory scholarly open-access publishers” auf. Auch auf der „Early Warning Journal List 2020“ der chinesischen Akademie der Wissenschaften war es mit drei von 65 Fachzeitschriften vertreten. Ein positives Bild zeichnen dagegen die Analysen von Clarivate Analytics, die anhand der Daten ihres Zitierungs­netzwerks Web of Science jährlich über die Impact-Faktoren (JIF) aller Journale entscheiden. Noch 2014 maßregelte es drei Hindawi-Journale für anomale Selbst­zitations­raten mit dem Entzug ihres JIF. Doch seitdem kamen keinerlei Auffälligkeiten mehr ans Licht.

Spiegelt Römischs Erfahrung mit CMI also nur ein Fachmagazin im Umbruch wider? Im Januar 2021 hatte der US-Verlag John Wiley & Sons den reinen OA-Verlag Hindawi für 298 Millionen US-Dollar erworben und manche seiner eigenen Journale – wie eben CMI – an die neue Verlags­tochter Hindawi abgegeben. Die alte CMI-Website erklärt: „Cellular Microbiology will remain a Wiley title but will be published and hosted by Hindawi.“ Laborjournal fragte im Dezember 2022 bei Hindawi nach, was es bedeutet, von einem Verlag heraus­gegeben zu werden, aber bei einem anderen zu verbleiben? Welche der aktuellen Journal­metriken sich noch auf Wiley und welche sich auf die neue Heraus­geberschaft durch Hindawi beziehen? Und warum keine der CMI-Publikationen 2022 bei PubMed gelistet ist?

Mehrere Production Editors, Support Specialists und Editorial Assistants von Hindawi versprachen zeitnah zu antworten. Bis Redaktions­schluss Ende Januar 2023 geschah das nicht. Die einzige Deutsche in Hindawis Editorial Board Barbara C. Kahl, Oberärztin am Institut für Medizinische Mikrobiologie des Universitäts­klinikums Münster, erklärte gegenüber Laborjournal, nach nur wenigen Monaten von ihrer Aufgabe als Editorin zurückzutreten. Zum einen würden ihr „immer wieder Manuskripte zugesandt, die absolut nicht in meiner Fach­kompetenz liegen“. Zum anderen wären beim Journal „Vorgänge nicht so durchschaubar“.

Breite Grauzone

Im Dezember 2019 erörterten fünfzig Vertreter von Wissenschafts­einrich­tungen, Forschungs­förderern und Verlagen aus zehn Ländern, was Raubtier­journale kennzeichnet. Sie einigten sich auf: „They are entities that prioritize self-interest at the expense of scholarship and are characterized by false or misleading information, deviation from best editorial and publication practices, a lack of transparency, and/or the use of aggressive and indiscriminate solicitation practices” („Predatory journals: no definition, no defence“, Nature, 576: 210-2).

Weder auf CMI noch auf Hindawi treffen diese Kriterien komplett zu. Vielmehr existiert innerhalb der Gesamtheit weltweiter Wissenschafts­verlage ein Kontinuum von Anbietern, die von betrügerisch über laienhaft bis hin zu renommiert reichen. Manchen Journalen gelingt es, ihre Standards mit der Zeit zu verbessern, andere sehen in Betrug die einzige Einkommens­möglichkeit. Die einen von den anderen zu unterscheiden, ist oft problematisch. Die Grauzone ist breit.

Und nun?

Was bedeutet das für Autoren? Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als ein anvisiertes Journal auf Herz und Nieren zu prüfen. Für Karin Römisch steht fest: „Lieber eine halbe Stunde für diese Checks investiert, als wie wir ein halbes Jahr an ein ehemals seriöses Journal wie CMI verschwendet!“

Kurz vor Redaktions­schluss erreichte Laborjournal doch noch eine positive Nachricht aus Saarbrücken: „Unser Justiziariat hatte mir keine Hoffnungen gemacht, die Publikations­gebühren von einem Verlag mit Sitz im Ausland erstattet zu bekommen. Es rentiere sich nicht, rechtliche Schritte wegen zweitausend US-Dollar einzuleiten. Doch nachdem ich CMI rechtliche Konsequenzen in Aussicht stellte, waren unsere Publikations­gebühren plötzlich mit den selben Bankdaten rückerstattet, die vorher wochenlang eine Error Message produziert hatten. Es ist nicht zu erkennen, ob CMI nur irrsinnig unorganisiert ist oder ob das System hat.“ Entkräftet das aber die Raubtier-Vermutung?

Henrik Müller

Dieser hier leicht gekürzte Artikel erschien zuerst in Laborjournal 1-2/2023.

Bild: Just de Leeuwe (CC-BY)


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Letzte Änderungen: 28.02.2023