Editorial

Wirkstoff des Monats: SP1-77

von Karin Hollricher (Laborjournal-Ausgabe 10, 2022)


Stichwort

(07.10.2022) Noch ist SP1-77 zwar nur ein experimenteller Antikörper und kein Wirkstoff. Er könnte aber einer werden, und zwar zur Bekämpfung von SARS-CoV-2.

Neutralisierende Antikörper sind ein wichtiges Werkzeug, um SARS-CoV-2 während der akuten Infektionsphase abzufangen und womöglich auch persistierende Viren bei Long-COVID-Patienten zu eliminieren. Leider ist das Virus so wandlungsfreudig, dass die Antikörper-Entwicklung kaum mit seiner Mutationsgeschwindigkeit mithalten kann.

Kürzlich allerdings stellte ein Team um Sai Luo von der Harvard Medical School in Boston ein Molekül namens SP1-77 vor, das alle bisher bekannten Varianten neutralisieren kann – vom Wuhan-Stamm über Alpha bis Omikron BA.5 (Sci. Immunol., doi: 10.1126/sciimmunol.add5446). Zwar bindet es wie andere, ebenfalls therapeutisch genutzte Antikörper an das Spike (S)-Protein des Virus. Neu ist aber, dass er nicht als Antagonist den ACE-Rezeptor besetzt und ebenso wenig die Endozytose hemmt, sondern dass er vielmehr die Fusion der Virusmembran mit der Membran der Wirtszelle unterbindet.

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Interessant dabei war, wie Luo und Co. bei ihrer Suche nach neuen, universellen Antikörpern vorgegangen sind: Sie veränderten eine Mauslinie, die humanisierte Antikörper exprimiert, derart, dass die Tiere ein viel größeres Repertoire an unterschiedlichen Antikörper-Molekülen herstellen konnten als zuvor. Um das zu verstehen, muss man etwas tiefer in die Entstehung der Immunglobuline einsteigen. Schwere und leichte Ketten der Antikörper werden durch Kombination zufällig gewählter Segmente der Regionen V (Variable), D (Diversity) und J (Joining) generiert. Es gibt Millionen Möglichkeiten dieser VDJ-Rekombination, was die Basis für ebenso viele unterschiedliche Antikörperspezifitäten darstellt. Zwischen den V-Gensegmenten einerseits und denjenigen für D und J andererseits liegt eine als IGCR (intergenic control region) bezeichnete Sequenz. Sie unterstützt die Annäherung der weit auseinanderliegenden Gensegmente, indem sie die Bildung einer chromosomalen Schleife (Loop) organisiert. Fehlt die IGCR-Sequenz, ist sind Position und Länge der Schleife flexibler – und die V(D)J-Rekombination hat noch mehr Variationsmöglichkeiten. Die US-Forschenden deletierten also kurzerhand diese IGCR-Sequenz in den Mäusen, woraufhin diese tatsächlich noch mehr verschiedene Antikörper bildeten.

Und auch die Hoffnung, dass die Tiere nach einer Immunisierung mit dem S-Protein von SARS-CoV-2 neuartige, unkonventionelle Antikörper bilden, erfüllte sich: Der so erhaltene Antikörper SP1-77 neutralisierte effizient acht Virus- sowie fünf weitere Omikron-Varianten in drei unterschiedlichen Tests, indem er die Dissoziation der S1-Untereinheit des S-Proteins und damit die Verschmelzung der viralen und zellulären Membranen verhinderte. Folglich konnte kein Virus in die Zellen eindringen.

Die Region des S-Proteins, die der Antikörper erkennt, ist in allen Virusvarianten unverändert. Offenbar unterliegt sie keinem Selektionsdruck durch die während einer Infektion normalerweise gebildeten Antikörper, was die – bisherige – universelle Wirkung von SP1-77 erklären würde.