Editorial

Winterschlaf

von Juliet Merz (Laborjournal-Ausgabe 9, 2022)


(06.09.2022) Der Herbst steht vor der Tür – und mit ihm fallen die Temperaturen und die Tage werden immer kürzer. Frei lebende Tiere wählen nun ihre ganz eigenen Strategien, um heil durch die frostigen, nahrungskargen Wintermonate zu kommen. Manche Vogelarten fliegen in wärmere Gefilde, andere Spezies legen sich ein dickes Fell zu und wieder andere verschlafen die kalte Jahreszeit lieber in ihrer mummeligen Erdhöhle.

Aber Schlafen ist nicht gleich Schlafen. Man unterscheidet zwischen Winterschlaf, Winterruhe und Winterstarre. Bei Ersterem, der Hibernation, erstarren die Tiere langfristig (Torpor), ihre Stoffwechselrate fällt stark ab und ihr Puls sowie ihre Atmung verlangsamen sich. Gleichzeitig senken Winterschläfer – zum Beispiel Fledermäuse, Hamster und Murmeltiere – ihre Körpertemperatur drastisch herab. Manche Säuger kühlen dabei auf ein bis zwei Grad Celsius herunter (zum Beispiel Igel aus der Familie der Erinaceidae), die Körpertemperatur anderer Arten sinkt sogar auf knapp unter null Grad Celsius, ohne dass die Tiere dabei gefrieren (zum Beispiel das Arktische Ziesel, Urocitellus parryii). Die eingesparte Energie ist beträchlich, sodass einige Kleinsäuger bis zu neun Monate Winterschlaf halten können.

Dem Kältetod entrinnen

Die Winterruhe hingegen ist eine wesentlich mildere Überwinterungsform. Sie gleicht eher dem normalen Schlafen, die Tiere können jederzeit aufwachen und die Körpertemperatur sinkt nicht wesentlich. Dachs, Eichhörnchen und Waschbären überwintern auf diese Weise.

Die Winter- oder auch Kältestarre praktizieren dagegen wechselwarme Vertreter wie Reptilien oder Amphibien, aber auch Insekten und Schnecken. Diese Überwinterungsstrategie wird nicht chronobiologisch eingeleitet, sondern ergibt sich schlicht mit der Umgebungstemperatur. Sinkt diese zu stark, können die Tiere jedoch dem Kältetod erliegen. Wo sich die Temperaturgrenze befindet, ist von Art zu Art sehr unterschiedlich. Einer der Spitzenreiter für Kältetoleranz ist der in Nordamerika vorkommende Waldfrosch (Rana sylvatica). Er überlebt Temperaturen im zweistelligen Minusbereich. Sein Trick: Ein körpereigenes Frostschutzmittel aus Harnstoff und Glucose schützt vor tödlichen Eiskristallen.

Zurück zum Winterschlaf. Um die Physiologie dahinter zu untersuchen, greifen Biologinnen und Biologen primär auf eine spezielle Tiergruppe als Modellorganismus zurück: die Erdhörnchen (Marmotini). Ein bereits ausgiebig studierter Vertreter ist das Belding-Ziesel (Urocitellus beldingi), das man nur im Frühjahr und Sommer durch das kalifornische Hochgebirge wuseln sieht. Im September zieht es sich in seinen unterirdischen Bau zurück und überwintert dort acht Monate. Während dieser Zeit sinkt seine ursprüngliche Körpertemperatur von 37 Grad Celsius auf nur wenige Grad Celsius über der Temperatur im Bau – und die kann schon nahe dem Gefrierpunkt liegen.

Flut an Bakterien

Besonders spannend dabei: Alle ein bis zwei Wochen wacht das Belding-Ziesel – aber auch andere Ziesel-Arten wie das Europäische Ziesel (Spermophilus citellus) – für ein paar Stunden auf und heizt sich auf seine urprüngliche Körpertemperatur hoch. Aber warum? Eine weit verbreitete Vermutung: So halten die Erdhörnchen alle Funktionen aufrecht, die für eine hohe Körpertemperatur notwendig sind.

Eine andere Theorie stellten vor einigen Jahren Forschende der Pennsylvania State University auf (Funct. Ecol. 20: 471-7). Sie erstellten ein einfaches mathematisches Modell, mit dem sie das Bakterienwachstum während des Winterschlafs errechneten. Die Autoren konzentrierten sich dabei auf Infektionen mit Bakterien, die auch bei geringen Temperaturen gut wachsen – wie zum Beispiel Salmonellen oder Pseudomonaden. Ihre Rechenergebnisse verglichen sie mit den Aufwachmustern von Europäischen Zieseln und kamen zum Ergebnis, dass die bakteriellen Infekte das Aufwachmuster beeinflussen. Den Grund dahinter erklären sich die Autoren wie folgt: Während der langfristigen Starre (Torpor) ist auch das Immunsystem der Tiere heruntergefahren, wodurch die Hörnchen Gefahr laufen, von den Bakterien regelrecht überschwemmt zu werden. Die Forschenden vermuten deshalb, dass das Europäische Ziesel regelmäßig aufwachen muss, um das Immunsystem kurz zu reaktivieren und damit die sich munter vermehrenden Bakterien in Schach zu halten.

Helfer im Inneren

Ein weiteres kniffliges Problem beim Winterschlaf: Wenn Muskeln über lange Zeit nicht benutzt werden, baut sie der Körper ab. Dabei entsteht Ammoniak, das in Harnstoff umgewandelt wird und in hohen Konzentrationen für Neuronen toxisch ist. Deshalb scheidet ihn der Säugetier-Körper mit dem Urin aus – und verliert dabei ständig Stickstoff, den er eigentlich für die Proteinsynthese dringend braucht. Normalerweise kann der Körper den wichtigen Bau­stoff über die Nahrung immer wieder nachliefern, da Winterschläfer allerdings monatelang fasten, sollten sie ziemlich schnell in Stickstoff-Bedrängnis geraten. Dazu kommt, dass Winterschläfer trotz längerer Inaktivität im Winter kaum Muskelmasse verlieren. Das liegt daran, dass zumindest Erdhörnchen spät im Winterschlaf die Syntheserate von Muskelprotein auf das Niveau der aktiven Saison erhöhen. Aber wie schaffen sie das ohne externe Stickstoffzufuhr?

Matthew Regan von der University of Wisconsin-Madison und Kollegen haben den Trick entschlüsselt: Dreizehnstreifen-Hörnchen (Ictidomys tridecemlineatus) recyceln den Stickstoff mithilfe von Darmbakterien (Science 375(6579): 460-3). Der eigentlich auszuscheidende Harnstoff gelangt vom Blut in den Darm und wird dort von ureolytischen Darmbakterien in Kohlenstoffdioxid und Ammoniak hydrolysiert. Letzteres wird dann entweder vor Ort von den Mikroben in Aminosäuren weiterverarbeitet oder passiert die Darmwand und gelangt in die Leber. Dort entstehen daraus entweder Aminosäuren, ganze Proteine oder Harnstoff – je nachdem, was das Hörnchen gerade benötigt, um im Frühling fit und kräftig seinen Bau wieder verlassen zu können.