Editorial

Insel-Regel Teil 2: Inselverzwergung

von Juliet Merz (Laborjournal-Ausgabe 1-22, 2022)


(07.02.2022) Die Insel-Regel beschreibt eine Theorie der evolutionären Ökologie, laut der Tierarten auf Inseln die Tendenz haben, im Vergleich zu Verwandten auf dem Festland entweder Riesen oder Zwerge zu werden. Seit ihrer Formulierung 1973 durch den US-amerikanischen Biologen Leigh van Valen (Evol. Theory 1: 31-49) wird die Insel-Regel von Ökologen und Evolutionsbiologen jedoch heiß diskutiert. Eine Gruppe um die spanische Ökologin Ana Benitez-López warf deshalb noch einmal einen genaueren Blick auf die bisherige Datenlage und kam zu dem Schluss, dass die Auswirkungen der Insel-Regel zumindest für Wirbeltiere weit verbreitet sind (Nat. Ecol. Evol. 5: 768-86).

Das alles und den Inselgigantismus haben wir uns bereits in der vergangenen Ausgabe von Laborjournal am Beispiel des Phillip-Island-Hundertfüßers und der Pazifischen Ratte angeschaut (Link). Die Insel-Regel beschreibt aber nicht nur die Tendenz, dass Arten auf einsamen Inseln größer werden, sondern eben auch, dass Spezies über Generationen hinweg schrumpfen – die sogenannte Inselverzwergung.

Gigantische Zwerge

Ein recht markantes Beispiel ist Palaeoloxodon mnaidriensis, ein sizilianischer Zwergelefant. Obwohl die Art mittlerweile ausgestorben ist, verraten Fossilfunde ziemlich genau, in welcher Gewichtsklasse der Dickhäuter mitmischte. Dabei wirkt die Bezeichnung „Zwerg“ fast ironisch: Mit einer Schulterhöhe von zwei Metern brachte der Zwergelefant stolze 1,7 Tonnen auf die Waage. Im Vergleich zu seinen nächsten Verwandten ist der Name jedoch mehr als gerechtfertigt. P. mnaidriensis gilt als direkter Nachfahre von P. antiquus, eine der größten Elefanten-Arten, die jemals über diese Erde getrottet ist. Mit einer Schulterhöhe von 3,7 Metern und einem geschätzten Gewicht von zehn Tonnen spielte der Riese in der Größenordnung von Mammuts mit. Es wird vermutet, dass der Vorfahre des auf Sizilien lebenden Zwergelefanten vor etwa 200.000 Jahren vom europäischen Festland aus auf die Insel schwamm, als der Meeresspiegel noch niedriger war, und dort kolonisierte.

Doch wie schnell verzwergte P. mnaidriensis? Diese Frage stellte sich auch ein europäisches Forschungsteam um Johanna L.A. Paijmans und Sina Baleka von der Uni Potsdam. Wie Detektive kombinierte die Gruppe unterschiedlichste Hinweise (zum Beispiel die mitochondriale Genomsequenz aus dem Felsenbein der Zwergelefanten, einem Knochen, der das Innenohr von Säugern umgibt) und kamen zu interessanten Ergebnissen. Erstens: Der auf Sizilien lebende Zwergelefant ist phylogenetisch betrachtet eine Schwester des Europäischen Waldelefanten (Current Biology 31: 3606-12). Außerdem könnten die Elefanten seit ihrer Isolation bis zu 200 Kilogramm Körpergewicht sowie vier Zentimeter an Höhe pro Generation verloren haben. Das sind allerdings Extremwerte. Laut Paijmans, Baleka und Co. könnten die Elefanten auch nur 740 Gramm Gewicht und 0,15 Millimeter an Schulterhöhe eingebüßt haben.

Dennoch ist das Ausmaß der Verzwergung aus diesem relativ schnellen Evolutionsprozess bemerkenswert, finden die Autoren, denn die Verzwergung führte bei einem der größten Landsäugetiere, das jemals gelebt hat, zu einem Verlust an Körpermasse von fast 85 Prozent.

Tatsächlich ist P. mnaidriensis aber nicht das einzige Beispiel von Inselverzwergung bei Dickhäutern. Gerade im mediterranen Raum spielte sich der Evolutionsprozess mehrmals ab. Die Literatur beschreibt mindestens sieben Arten von Zwergelefanten, die sich fast alle unabhängig voneinander entwickelt haben, wie die Paläontologin Victoria Herridge vom Natural History Museum in London in ihrer Dissertation zusammenträgt (discovery.ucl.ac.uk/id/eprint/133456/). P. mnaidriensis gehört dabei sogar nur zur mittleren Größenklasse. Ebenfalls auf Sizilien, aber noch bevor es den eben beschriebenen Zwergelefanten gab, lebte ein weiterer Zwergelefant (P. falconeri), der nicht mal einen Meter groß wurde und gerade einmal 300 Kilogramm wog.

Aber was nutzt Arten eigentlich der Körpergrößenverlust, wenn sie auf Inseln leben? Die Wissenschaftscommunity diskutiert hier unterschiedliche Faktoren. Auf einsamen Inseln kann es vorkommen, dass unterschiedliche spezifische Stressoren wegfallen: Zum Beispiel leben dort gegebenenfalls weniger oder gar keine Prädatoren, und auch ein Konkurrenzkampf wird obsolet, wenn ebenbürtige Gegner beziehungsweise „Mitesser“ fehlen. Fallen diese Faktoren weg, bringt einem eine große Körperstatur keine Vorteile mehr. Im Gegenteil: Viel Biomasse benötigt viel Energie, die auf Inseln durchaus knapp sein kann. Ein deshalb ebenfalls plausibler Grund für die Inselverzwergung: die limitierten Ressourcen auf einsamen Inseln.

Unter Hobbits

Aber nicht nur Giganten wie Elefanten, Nilpferde oder andere große Säugetierarten und sogar Dinosaurier wie Europasaurus holgeri können verzwergen, es gibt auch subtilere Beispiele des Insel-Phänomens.

2018 untersuchten Erstautorin Serena Tucci von der Princeton University und Kollegen ein Menschenvolk, das bis heute auf der indonesischen Insel Flores lebt (Science 361(6401): 511-6). Die Menschen dort haben eine durchschnittliche Körpergröße von 145 Zentimetern, kleiner als die Durchschnittsbevölkerung auf dem Festland (158 Zentimeter). Besonders interessant: Das Volk lebt in einem Dorf nicht weit von einer Höhle, in der 2004 Fossilien einer bereits ausgestorbenen Menschen-Art gefunden wurden – Homo floresiensis. Diese auch als „Hobbit“ bezeichnete Spezies war schätzungsweise gerade einmal 106 Zentimeter groß und lebte vor mehreren zehntausend Jahren auf der Insel.

Tucci et al. interessierte vor allem, inwiefern die beiden Arten miteinander verwandt sind. DNA-Proben zeigten schließlich, dass die heute auf Flores beheimateten Menschen zwar Spuren von Neandertalern und Denisova-Menschen in sich tragen, allerdings nicht von anderen Hominiden. Sie stammen also nicht von H. floresiensis ab, was bedeutet, dass die Inselverzwergung in den beiden Hominiden zweimal unabhängig voneinander entstanden ist.