Editorial

Antigen-Erbsünde

von Juliet Merz (Laborjournal-Ausgabe 6, 2021)


(09.06.2021) Unser heutiges Stichwort dürfte manchen noch aus der Immunologie-Vorlesung bekannt sein. Zur kurzen Auffrischung: Die Antigen-Erbsünde beschreibt die Tendenz des menschlichen Organismus, Antikörper nur gegen diejenigen Epitope eines Virus herzustellen, die der ursprüngliche Stamm dieses Virus mit den nachfolgenden verwandten Stämmen gemeinsam hat, selbst wenn diese auch andere hoch-immunogene Epitope tragen.

Das Phänomen war Mitte des 20. Jahrhunderts das erste Mal beschrieben worden, als der US-amerikanische Epidemiologe Thomas Francis Junior von der Universität Michigan sich Seren von Kindern und Erwachsenen genauer angeschaut hatte (J. Exp. Med. 98(6): 641-56; Proc. Am. Philos. Soc. 104: 572-8). Francis und Co. war aufgefallen, dass die Antikörper-Antworten der Probanden nicht gänzlich auf die neu aufgetretenen Influenza-Stämme passten, sondern sich vielmehr gegen Virus-Varianten richteten, mit denen die Teilnehmer in ihrer Kindheit Kontakt hatten. Wenn eine Person im Laufe ihres Lebens Antikörper gegen bestimmte Virusstämme gebildet hatte, wurden bei einer Infektion mit einer neuen Variante dennoch die „alten“, ursprünglichen Antikörper in großen Mengen produziert. Francis et al. vermuteten, dass sich die Antikörperbildung an den Infektionen im Kindesalter orientieren.

Jahre später beobachteten die zwei Schweizer Immunologen Paul Klenerman und Rolf Zinkernagel vom Universitätsspital in Zürich das Phänomen auch bei zytotoxischen T-Zellen (1998, Nature 394: 482-5). Sie hatten Mäuse mit dem Wildstamm eines Lymphozytären-Choriomeningitis-Virus infiziert. Eine anschließende Infektion mit einer anderen Virus-Variante zeigte jedoch eine T-Zell-Antwort, die eher gegen das ursprüngliche Epitop gerichtet war als gegen die neue Epitop-Variante. Die Autoren vermuteten damals, dass dieser Mechanismus dafür sorgen könnte, dass mutierte Viren, die sich in einem einzigen Wirt entwickelt hatten, dem Immunsystem besser entkommen können.

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Illustr.: JM

In derselben Nature-Ausgabe formulierte der Molekularmediziner Andrew J. McMichael vom John Radcliffe Hospital in Oxford (UK) die beunruhigende Vermutung, dass monovalente Impfstoffe gar nicht mehr wirken, wenn das entsprechende Epitop mutiert. Die durch die Impfung induzierte Reaktion der zytotoxischen T-Zellen könnte die Infektion dann möglicherweise überhaupt nicht kontrollieren, im schlimmsten Fall könnte die Impfung die Infektion sogar verschlimmern.

Nachteil durch Impfung?

Dieser Satz lässt Impfgegner und Verschwörungstheoretiker gespannt aufhorchen. Die Theorie der Antigen-Erbsünde ist seit der ersten Beschreibung jedoch ständig infrage gestellt worden, wie Carole Henry von der Universität Chicago (USA) und Co. in einem Übersichtsartikel zusammenfassen (Trends Immunol. 39(1): 70-9). Sie schlagen deshalb auch einen weniger negativ konnotierten Begriff vor: etwa das Antigen-Dienstalter (Antigenic Seniority) oder die Antigen-Prägung (Antigen Imprinting). Denn laut Henry et al. wäre es nur dann eine wahre Sünde, wenn nichts Gutes daraus hervorginge. Ein Gegenbeispiel sind die beiden H1N1-Pandemien 1918 und 2009. Damals war die ältere Bevölkerung glimpflicher davongekommen, was schließlich auf den Kreuzschutz von Antikörpern aus früheren Infektionen zurückgeführt wurde.

Die Autoren schreiben aber auch, dass sich das Immungedächtnis und die Antikörper bei einem antigenisch ähnlichen Stamm auf ein einzelnes Epitop versteifen können. Dabei können die bereits vorhandenen Antikörper das Epitop blockieren oder sterisch behindern, sodass der Zugang zum Antigen verringert ist (Epitopmaskierung). Das wird dann gefährlich, wenn durch einen Antigen-Drift das Epitop verändert und dann nicht mehr erkannt werden kann. Möglicherweise nutzen Influenza-Viren genau diesen Vorgang, um dem Immunsystem des Wirtes zu entkommen.

Ein Ausweg aus der Misere könnten breit neutralisierende Antikörper sein. Sie binden an konservierte molekulare Strukturen der Viren, die sich nicht stark ändern, während der Erreger im Organismus mutiert. Der Körper kann diese Antikörper sogar selbst bilden – wie das induziert wird, untersucht ein Team um Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig.

In Computersimulationen konnte die Gruppe zeigen, dass Gedächtnis-B-Zellen von vorigen Immunreaktionen bei einer erneuten oder andauernden Infektion Antikörper produzieren, die an dominant präsentierte Virus-Epitope binden (Cell Rep. 29 (5): P1066-73.E5). Dieser Vorgang verhindert, dass die B-Zellen zurück in die Keimzentren der Lymphknoten gelangen, um sich auf neue oder mutierte Epitope zu spezialisieren.

Der Vorteil: „Das macht den Weg frei für B-Zellen, die sich auf die schlecht zugänglichen Epitope konzentrieren können und erklärt, warum einige Individuen die breit neutralisierenden Antikörper erzeugen“, erklärt Meyer-Hermann in einem Interview mit dem HZI. Die Selbst-Unterdrückung der Gedächtniszellen kommt jedoch meistens zu spät, alle B-Zellen mit dem Potenzial, an die versteckten Epitope zu binden, sterben. Meyer-Hermann schlägt deshalb vor, durch eine Injektion mit Antikörpern gegen dominante Epitope die Ausbildung der B-Zellen auf die versteckten Epitope zu verlagern.

Im Zuge der aktuellen Corona-Pandemie stellt sich dennoch die Frage: Spielt die Antigen-Erbsünde auch bei SARS-CoV-2 und seinen Varianten eine Rolle? Dies und mehr beantwortet der Charité-Infektiologe Leif Erik Sander im Corona-Gespräch ab Seite 14.