Editorial

Asgard-Archaeen

von Juliet Merz (Laborjournal-Ausgabe 5, 2020)


(08.05.2020) In den Lebenswissenschaften sind sich nicht immer alle einig. Und wenn sie sich einig sind, muss das nicht heißen, dass sie zwangsläufig richtig liegen. Ein gutes Beispiel ist die Phylogenie. So wurde der Stammbaum aller existierenden (und ausgestorbenen) Arten, der Tree of Life, in den letzten Jahrzehnten ständig revidiert und über dessen Verzweigungen wird bisweilen hitzig diskutiert. Neuen Zündstoff liefern die Asgard-Archaeen. Aber von vorne.

Lange Zeit waren Biologen davon ausgegangen, die Lebewesen auf diesem Planeten ließen sich aufteilen in Pflanzen und Tiere. Die anschließend entdeckten Bakterien wurden schnell den Pflanzen zugeordnet, bis Forscher zurecht einwarfen: Das kann so nicht stimmen.

In den 1930ern gliederte dann der französische Protistologe Édouard Chatton das Leben in zwei Hauptgruppen: die Eukaryoten und Prokaryoten. Es vergingen genau vierzig Jahre, bis auch diese Hypothese von den beiden US-Amerikanern Carl Woese und George Fox widerlegt wurde. Sie veröffentlichten im Jahr 1977 eine Studie, die zu den wohl wichtigsten Publikationen der Mikrobiologie der vergangenen Jahrzehnte gehört. Darin verkündeten die beiden Forscher ihre Entdeckung der Archaeen (PNAS 74 (11): 5088-90) – und erweiterten den Tree of Life um einen Zweig.

Jahre später erkannte Woese, dass es sich bei Archaeen und Eukaryoten um Schwestergruppen handelt, also Nachkommen, die sich vom selben Ast getrennt haben und damit die engsten Verwandten sind. Diese Erkenntnis befeuerte eine Idee, die seit der Entdeckung der Archaeen in den Köpfen von Biologen keimte: Könnten Archaeen nicht eine wichtige Rolle beim Ursprung eukaryotischen Lebens gespielt haben?

Weitere Studien verstärkten die evolutionäre Verbindung zwischen den beiden Domänen. Denn obwohl Archaeen hinsichtlich ihrer Zellstruktur den Bakterien sehr ähnlich sind, haben sie mit Eukaryoten noch eine ganze Menge mehr gemein. Die archaealen RNA-Polymerasen beispielsweise sind komplexer als ihre bakteriellen Gegenstücke und auch die Zusammensetzung ihrer Untereinheit ähnelt der von Eukaryoten. Außerdem deuten ihre molekulare Phylogenie für ribosomale RNA und ihr kleiner Pool an Genen, die eine wesentliche Rolle bei der Proteintranslation spielen, darauf hin, dass die Archaea enger mit der eukaryotischen Kernlinie verwandt sind.

Ein weiteres Puzzleteil entdeckten Woese et al. 1985, als sie zeigten, dass ein Alphaproteobakterium als Endosymbiont das eukaryotische Mitochondrium gebildet haben muss – doch die Herkunft des Wirtes blieb weiterhin ein Rätsel (PNAS 82 (13): 4443-7).

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Des Rätsels Lösung

Bis im Sommer 2015 die beiden schwedischen Forscher Lionel Guy und Thijs Ettema von der Universität in Uppsala das passende Stück für die klaffende Wissenslücke fanden. Der Fundort: Südwestlich von Spitzbergen im Atlantik, über 3.000 Meter unter der Meeresoberfläche. In der Nähe von Loki‘s Castle, einem Feld von fünf hydrothermalen Quellen, zogen die Forscher bisher unbekannte Organismen aus dem Sediment – oder vielmehr ihre 16S-RNAs (Nature 521:173-9).

Sie tauften den Phylumkandidaten schließlich Lokiarchaeota, zum einen nach dessen Fundstelle, die wiederum nach der formverändernden Gottheit Loki der nordischen Mythologie benannt wurde. Zum anderen mit einem kleinen Augenzwinkern als Analogie zu den laufenden Debatten über die Entstehung von Eukaryoten, denn Loki gilt unter Literaturwissenschaftlern als erstaunlich komplexe, verwirrende und ambivalente Figur, die unzählige ungelöste wissenschaftliche Kontroversen ausgelöst hat.

Die Daten aus der Tiefsee verrieten den Mikrobiologen, dass sich im Genom der Lokiarchaeota die Codes für eukaryotische Signaturproteine versteckten. Darunter Proteine, die bei Eukaryoten zur Membranumgestaltung verwendet werden, oder Homologe für das Ubiquitin-aktivierende Enzym E1.

In den folgenden Jahren fanden Ettema und Co. weitere verwandte Archaeen: die Thor-, Odin- und Heimdallarchaeota. Sie fassten die vier Phyla schließlich zum Superphylum namens Asgard zusammen, nach dem Reich der Götter in der nordischen Mythologie (Nature 541: 353-8).

Die Genome der Asgard-Archaeen sind mit Proteinsequenzen angereichert, die früher als spezifisch für Eukaryoten galten. Das Problem auf dieser Spurensuche: Die Asgard-Archaeen lassen sich im Labor nicht kultivieren und daher nur schwer untersuchen – bis jetzt.

Denn dieses Jahr hat ein japanisches Forscherteam das schier Unmögliche geschafft. Nach jahrzehntelangen Versuchen gelang es den beiden Erstautoren Hiroyuki Imachi und Masaru Nobu mit Kollegen, einen Stamm vom Asgard-Archaeon Candidatus Prometheoarchaeum syntrophicum zu kultivieren (Nature 577: 519-25). Sie brauchten dafür zwölf Jahre.

Der Organismus sorgte für eine Überraschung: Obwohl Forscher wie Ettema durch die Genanalysen vermutet hatten, in den Asgard-Archaeen müssten sich eukaryotenähnliche intrazelluläre Komplexe befinden, konnten Imachi, Nobu und Co. nichts dergleichen finden. In den anaeroben, extrem langsam wachsenden kleinen Kokken gab es keine sichtbaren organellenähnlichen Strukturen. Stattdesssen können die Archaeen lange, Tentakel-ähnliche Ausstülpungen bilden. Diese Entdeckung und weitere Daten aus der Studie sowie anderen Publikationen ließ die Autoren eine neue Hypothese formulieren: das Entangle-Engulf-Endogenize-Modell. Die Japaner vermuten, dass sich der erste Eukaryot in einem komplexen Zusammenspiel zwischen einem Archaeon, einem Sulfat-reduzierenden Bakterium und einem aeroben organothrophen dritten Partner (das spätere Mitochondrium) gebildet hat. In dem Szenario wickelte das Archaeon sich mit seinen „Tentakeln“ um das zukünftige Mitochondrium und schloss es schließlich ein.

Im letzten Abschnitt räumen die Autoren allerdings ein, dass es sich bei ihrem Modell um eines von mehreren denkbaren Szenarien handelt. In jedem Fall müsste der klassische Drei-Domänen-Baum von Woese wohl überdacht werden.



Letzte Änderungen: 08.05.2020