Editorial

Artemisinine

von Juliet Merz (Laborjournal-Ausgabe 01, 2017)


Stichwort

Foto: Wikimedia Commons/L. Vuyck (1906) Flora Batava

Der Einjährige Beifuß (Artemisia annua) ist eine medizinische Wunderwaffe. Das hatten viele bereits erkannt, als die Pharmakologin Tu Youyou sich die Heilpflanze in den 60er Jahren nochmals vornahm, um einen potentiellen Wirkstoff gegen Malaria zu suchen. Und sie wurde tatsächlich fündig. Für die Isolierung des Sesquiterpens Artemisinin im Jahre 1971 erhielt die Chinesin 2015 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.

Artemisinine werden auch heute noch gegen Malaria eingesetzt. Das durch den einzelligen Parasiten der Gattung Plasmodium ausgelöste Krankheitsbild erstreckt sich von rhythmischen Fieberanfällen, grippeähnlichen Symptomen samt Gliederschmerzen und Krampfanfällen – bis hin zum Koma. Im Menschen vermehrt sich der Parasit in den roten Blutkörperchen und verdaut dort das wirtseigene Hämoglobin. Dadurch entsteht in den Nahrungsvakuolen der Plasmodien redox-aktives Eisen – gleichsam die Achillesferse des Einzellers. Denn an genau dieser Stelle greifen viele Anti-Malaria-Medikamente an – auch die Artemisinine. Der genaue Wirkmechanismus des Beifuß-Mittels ist zwar gegenwärtig noch nicht ganz geklärt. Als weithin anerkannt gilt aber, dass durch den Pflanzenwirkstoff freie Radikale gebildet werden, die mit Parasiten-Proteinen reagieren und ihn letztlich töten.

Gegen alles gewappnet

Nachdem der Anti-Malaria-Wirkstoff etabliert war, erkannten Molekularbiologen vom BioQuant-Zentrum der Universität Heidelberg und des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) Jahre später einen weiteren Effekt der Artemisinine. Nathan Brady et al. veröffentlichten 2011 eine Studie, in der das Artemisinin-Derivat Artesunat erfolgreich Brustkrebszellen abtötet (J Biol Chem 286(8): 6587-601). Die Artesunate nutzten – ähnlich wie die Artemisinine bei Plasmodium – das gespeicherte Eisen in den Lysosomen der Krebszellen, um freie Radikale zu bilden, welche nachfolgend die mitochondriale Apoptose einleiteten. Bei gesunden Zellen löste das Artesunat dagegen keinen programmierten Zelltod aus. Erstautorin Anne Hamacher-Brady und ihre Kollegen vermuteten damals, dass der veränderte Stoffwechsel und der damit gestiegene Eisenbedarf die Tumorzellen für diesen Prozess empfindlicher macht.

Als wäre das nicht genug, haben die Artemisinine noch ein Ass im Ärmel: Neben der Wirkung gegen Malaria und Krebszellen entdeckten Forscher um den Epigenetiker Stefan Kubicek erst vor kurzem noch eine weitere Eigenschaft der Beifuß-Stoffe. Mehr durch Zufall konnte das Team vom Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien zeigen, dass der Blutzuckerspiegel von diabetischen Zebrafischen, Ratten und Mäusen sich durch das Anti-Malaria-Mittel wieder normalisierte (Cell 168: 86-100). Artemisinine könnten damit in Zukunft womöglich auch Patienten mit Diabetes mellitus Typ 1 helfen. Aber wie das?

Verwandlungskünstler

Bei Zuckerkranken mit Typ-1-Diabetes führt eine Autoimmunreaktion dazu, dass Beta-Zellen der Langerhans-Inseln im Pankreas zerstört werden. Infolgedessen fehlt den Patienten das Hormon Insulin, welches den Blutzuckerspiegel senkt und durch Injektionen ersetzt werden muss.

Gegenspieler der Beta-Zellen sind die Alpha-Zellen. Diese produzieren das Hormon Glucagon, das im Gegensatz zum Insulin den Glucosespiegel im Blut erhöht. Trotzdem sind sie den Beta-Zellen nicht unähnlich und können sich bei größerem Beta-Zell-Verlust in Insulin-produzierende Zellen umwandeln. Hauptakteure für diesen Prozess sind die beiden Transkriptionsfaktoren ARX und Pax4 – aber dazu kommen wir später.

Kubicek und sein Team hatten nun versucht, die Umwandlung von Alpha- in Beta-Zellen kontrolliert auszulösen. Als Katalysatoren dafür wollten sie Bestandteile verschiedener zugelassener Medikamente nutzen. Folglich testeten sie eine Vielzahl von Stoffen aus einer riesigen Substanzbibliothek auf spezielle Effekte bei Alpha-Zellen. Bei den beiden Artemisininen Artemether und dessen aktivem Metaboliten Dihydroartemisinin wurden Kubicek und Co. dann fündig. Beide Stoffe konnten ARX, den Hauptregulator in Alpha-Zellen, inhibieren. Zudem stabilisierte insbesondere Artemether in Dosis-abhängiger Weise das Protein Gephyrin, was zu einem Anstieg von GABA-Rezeptor-Signalübertragungen führte. Als Resultat wurde weniger Glucagon sekretiert, ARX wurde inhibiert, was wiederum die Konzentration an PAX4 und Insulin erhöhte. Am Ende verloren die Zellen schließlich ihre Alpha-Identität und wurden zu Beta-Zellen.

Die Geschichte könnte so schön sein – gäbe es da nicht einen Haken. Aufmerksame Leser werden ihn vielleicht gefunden haben: Beim Typ-1-Diabetes handelt es sich um eine Autoimmunerkrankung. Selbst wenn Artemisinine Alpha-Zellen in Beta-Zellen umwandeln können, werden diese vom Immunsystem höchstwahrscheinlich wieder als solche erkannt und zerstört. Außerdem müsste man in Zukunft auch sicher stellen, dass die Anzahl an Alpha-Zellen durch eine derartige Umwandlung nicht stetig abnimmt.

In der Malaria-Praxis wird Artemisinin normalerweise drei bis vier Tage eingenommen. Zuckerkranke müssten das Medikament aber über viel längere Zeit einnehmen. Um das zu verantworten, muss zuerst eine klinische Langzeit-Studie her.

Zum Glück haben Pharmakologen das breite Potenzial von Artemisininen zur Bekämpfung verschiedener Krankheiten schon länger erkannt. Eine entsprechende Studie mit Krebspatienten hat deshalb bereits begonnen.





Letzte Änderungen: 06.02.2017