Editorial

Propriozeption

von Petra Stöcker (Laborjournal-Ausgabe 05, 2006)


Was wir glauben zu tun, ist nicht immer was wir tatsächlich tun - das wiesen australische Forscher kürzlich nach.

Dieses schöne Wort ist lateinischen Ursprungs ("proprius" = eigen und "recipere" = aufnehmen). Es beschreibt die Eigenwahrnehmung des Körpers, auch "Tiefensensibilität" genannt. Dieser "sechste Sinn" sorgt dafür, dass wir beispielsweise auch mit geschlossenen Augen einen guten Eindruck von der Haltung und Bewegung unserer Arme und Hände haben.

Für diese Wahrnehmung körpereigener Reize sind entsprechende Rezeptoren zuständig, so genannte Proprio-Rezeptoren oder kurz "Propriozeptoren". Dazu zählen unter anderem die Mechanorezeptoren in den Gelenkkapseln, Muskeln, Sehnen und der Haut. Zusammen mit Rezeptoren des Gleichgewichtsorgans übermitteln sie dem ZNS - vor allem dem Kleinhirn - die Lage, Haltung und Bewegung des Körpers über sensible afferente, also zuleitende Nervenbahnen. Diese senden auch von außen auf den Körper einwirkende Reize wie Licht, Temperatur und Berührung. Auf diese Informationen reagiert unsere Schaltzentrale mit efferenten, also ableitenden Impulsen, für die Körpermotorik, etwa über somato-motorische Nerven.

Diese einfache Vorstellung, dass also sensorische Rezeptoren hauptsächlich für die Positionsbeschreibung des Körpers verantwortlich sind, ist soweit in trockenen Tüchern. Trotzdem kitzelt fast jeden damit beschäftigten Forscher die Frage, welchen Beitrag jeweils afferente und efferente Impulse an der Beurteilung über Körperhaltung und -bewegung leisten.

Nicht neu ist die Tatsache, dass bei der Propriozeption der Armmuskeln die Einschätzung der Schwere eines Gewichts nicht allein von tatsächlichen afferenten Signalen abhängt, sondern auch von zentralen Signalen. Werden beispielsweise Muskeln experimentell geschwächt, wird ein Gewicht als viel schwerer empfunden, als es tatsächlich ist. Sind allein bestimmte Hirnareale des motorischen Systems verletzt, sind sich die betroffenen Patienten vieler ihrer Bewegungen und Haltungen nicht mehr eindeutig bewusst oder können diese nicht mehr hundertprozentig kontrollieren.


"Winke-Winke"

In einer neuen Veröffentlichung beschäftigt sich das australische Team rund um Janet Taylor vom Prince of Wales Medical Research Institute und der University of New South Wales in Sydney damit, in wie weit ein Signal zentralen Ursprungs zur Wahrnehmung der Armhaltung beiträgt (J Physiol. 571, S. 703-710).

Im Vorfeld tauchten immer wieder Berichte über tatsächlich wahrgenommene Bewegungen von vorübergehend experimentell, beziehungsweise durch Krankheit "stillgelegter" oder gar amputierter Gliedmassen auf. Ist die Bewegung unbedingt gewollt, aber nicht ausführbar, wird sie von den untersuchten Personen trotzdem als tatsächlich ausgeführt beschrieben.

Die Studien des australischen Teams wurden an sechs gesunden Probanden durchgeführt, deren rechter Arm am Handgelenk so in einem Kasten festgeschnallt wurde, dass sie ihn nicht sehen konnten. Beugen und Strecken des Handgelenks war weiterhin möglich, die Finger wurden gestreckt fixiert. Eine einfache "Winke-Winke"-Bewegung war ihnen noch möglich. Die jeweils real ausgeführte Handstellung wurde mit einem über dem fixierten Handgelenk angebrachten Winkelmesser aufgezeichnet. Mit der linken Hand zeigten die Probanden auf einem Winkelmesser den von ihnen wahrgenommenen, mit der rechten "unsichtbaren" Hand ausgeführten Winkel an.

Die Teilnehmer mussten zunächst selbst ihre Handpositionen ändern, dann wurde sie durch einen Experimentator in verschiedenen Winkeln bewegt. Muskelbewegungen, beziehungsweise die "oberflächlichen elektromyographischen Aktivitäten" (EMG) wurden über Elektroden auf den Beuge- und Streckmuskeln des Unterarms gemessen.

Im zweiten, etwas härteren Teil des Versuchs wurde durch eine Oberarm- manschette die Blutzufuhr in den Arm unterbunden, bis dieser taub wurde. Später betäubten die Wissenschaftler zusätzlich durch das Lokalanästhetikum Lidocain örtlich den rechten Arm ellbogenabwärts, womit sie sämtliche Nervenbahnen lahm legten und afferente Empfindungsmeldungen ausschalten konnten.

Unter "normalen", also nicht betäubten Bedingungen konnten alle Teilnehmer genau sagen, ob und wie ihre Hand von einem Experimentator oder von ihnen selbst bewegt wurde. Ganz anders unter Betäubung: sie konnten die Position ihrer Hand nicht mehr beschreiben, wenn sie von einem Mitarbeiter passiv bewegt wurde. Wurden sie jedoch angewiesen, ihre Phantomhand selbst in eine bestimmte Richtung zu bewegen, waren sie fest der Meinung, ihre Hand hätte die Position geändert, sogar wenn sie komplett fixiert war. Diese "Bewegungsillusion" "wie durch Sirup" war umso eindeutiger, je mehr sie sich anstrengten.


Äußere und innere Signale

Nach der Arbeit von Taylors Team können also zentrale Anweisungen des Gehirns die eigentlichen Sinneseindrücke der Probanden dominieren, sobald Signale von außen fehlen. Die Wissenschaftler vermuten nun, dass ein Zusammenspiel von äußeren und inneren Signalen zur tatsächlichen Wahrnehmung führt. Damit wird wohl auch verständlicher, wenn Amputierte über Bewegungen und Gefühle ihrer fehlenden Gliedmaßen berichten. Vieles bleibt dennoch unklar. Noch nicht entdeckt sind beispielsweise die neuralen Wege für diese zentralen Kommandos und wie hoch ihr Anteil unter Normbedingungen an der Sinneswahrnehmung ist. Solange jedoch nicht "mehr Schein als Sein" gilt, können wir getrost auf unsere sechs Sinne vertrauen.



Letzte Änderungen: 08.06.2006