Autotomie

von Juliet Merz (Laborjournal-Ausgabe 4, 2022)


Editorial

(12.04.2022) Wenn Tieren Gefahr droht, gibt es mehr oder weniger nur zwei Optionen: fight or flight. Flüchten ist dabei nicht die schlechteste Variante, gerade wenn das Gegenüber größer, stärker oder giftiger ist. Neben einem blitzschnellen Abgang eignen sich auch gerissene Ablenkungsmanöver, um sich unbemerkt aus dem Staub zu machen. Ein bekanntes Beispiel ist das Tintensekret von Kraken und Co.

Andere Tiere lassen auf der Flucht sogar ganze Körperteile liegen – ein Prozess, der als Autotomie bezeichnet wird. So opfern Spinnen und Insekten häufig mal ein Bein und Krabben lassen im Eifer des Gefechts eine oder beide ihrer Scheren fallen. Es gibt sogar Stachelmaus-Arten (Acomys), deren Haut leicht abreißt und dann wieder nachwächst, um Beutegreifern zu entkommen. Der Sinn hinter der Selbstverstümmelung ist klar: Wenn mich ein Angreifer an einem nicht überlebenswichtigen Körperteil fest gepackt hat, trenne ich mich davon lieber, bevor ich als Mahlzeit ende.

Zappelnder Fleischhappen

Doch die wohl geläufigste Form der Autotomie vollziehen Eidechsen, die ihren Schwanz oder Teile davon abwerfen können. Das ist nicht nur geschickt, wenn der Angreifer das Schuppentier ebendort gepackt haben sollte. Ein abgeworfener, zappelnder Fleischhappen lenkt Aufmerksamkeit auf sich. Und manch ein Angreifer vergisst daraufhin das getürmte Opfer und gibt sich stattdessen mit dem kleinen Snack zufrieden.

Editorial

Obwohl das Phänomen sehr bekannt ist, wusste lange Zeit niemand so richtig, wie Echsen dieses paradox erscheinende Problem lösen: ein Schwanz, der fest verankert ist und gleichzeitig problemlos abgetrennt werden kann.

Einen Erklärversuch startete 2012 ein dänisches Forschungsteam um den Proteinchemiker Jan Johannes Enghild von der Aarhus University (PLOS ONE 7: e51803). Enghild und Co. nahmen den Schwanzabwurf von Tokees (Gekko gecko) genauer unter die Lupe. Der Schwanz der Tiere ist wie bei anderen Eidechsen in mehrere Segmente aufgeteilt und verfügt über mehrere Sollbruchstellen, sogenannte Frakturebenen. Je nachdem, wo das Reptil am Schwanz gegriffen wird, kann es möglichst kleine Schwanzteile abwerfen. Der Grund dafür ist simpel: Die Autotomie dient zwar als erfolgreiche Fluchtstrategie, ist aber mit erheblichen Kosten für das Tier verbunden. Der Schwanz hilft den Reptilien nicht nur bei der Fortbewegung, sondern teilweise auch beim Aufbau ihres Sozialstatus und der Speicherung von Fett. Außerdem dauert die Regeneration eines kurzen Schwanzstückes nicht so lange und ist ressourcenschonender.

Enghild und sein Team warfen einen genauen Blick auf die Flüssigkeiten rund um die Frakturebenen des Tokee-Schwanzes. Doch die Ergebnisse zeigten: Proteolytische Enzyme fehlten komplett. Das Fazit der Autoren lautete also, dass der Schwanz nicht auf chemischem, sondern mechanischem Weg abgeworfen wird. Der detaillierte Mechanismus blieb aber weiterhin ungeklärt.

Kürzlich konnten Forscher der New York University Abu Dhabi in den Vereinigten Arabischen Emiraten und der New York University in den USA mehr Licht ins Dunkel bringen (Science 375: 770-4). Seniorautor Yong-Ak Song und seine Kollegen brachten insgesamt drei verschiedene Eidechsen-Arten in die Bredouille, bis diese ihren Schwanz abwarfen. Dafür griffen sie die Schwanzspitze von sich ansonsten frei bewegenden Tieren, filmten die Szene mit einer Hochgeschwindigkeitskamera und stellten dabei verblüfft fest: Wenn sie den Schwanz der Eidechsen geradlinig nach hinten zogen, blieb er fest verbunden und brach nicht ab. Wurde es den Tieren zu bunt, knickten sie ihren Schwanz leicht ab und die Frakturebene riss auf. Die Tiere sausten davon, und die Forscher blieben mit einem fransigen, zuckenden Schwanzstück zurück.

Aufnahmen mit einem Elektronenmikroskop zeigten, wie der Schwanz und die Frakturebenen aufgebaut sind. Die Schwanzsegmente haben zwei unterschiedliche Enden. Das näher am Körper liegende Ende (proximal) hat acht umlaufend angeordnete Vertiefungen, die mit Bindegewebsschichten ausgekleidet sind. Das entfernter zum Körper liegende Ende (distal) hat hingegen ebenso viele keilförmige Muskelbündel, die in die Vertiefungen wie bei einem Stecker-Steckdosen-Prinzip hineinpassen. Das bedeutet: Jedes Schwanzsegment hat kleine in sich geschlossene Muskelsegmente; die Tiere durchtrennen beim Schwanzabwurf also nicht ihre Muskelfasern, sondern lösen lediglich die Verbindung in der Frakturebene. Aber wie sieht die aus?

Nicht zu stark, nicht zu schwach

Die Muskelbündel bestehen aus tausenden, Pilz-förmigen Mikrostrukturen, die sich wie Mikrosäulen aus dem Inneren der Bündel erheben. Auch Enghild et al. hatten seinerzeit diesen Aufbau bei den Tokees beobachtet. Die Spitze der Pilz-ähnlichen Mikrostrukturen hat aber noch ein anderes wichtiges Attribut: Sie ist übersät mit winzigen kleinen Poren. Sowohl die Nanoporen als auch die Mikrosäulen sorgen dafür, dass sich Adhäsionskräfte aufbauen, wodurch die Schwanzsegmente stabil miteinander verbunden sind. Eine besondere Rolle spielen dabei die Körperflüssigkeiten der Tiere, die in den Poren und den Mikrospalten liegen. Sie leiten elastische Energie ab (und stabilisieren die Anheftung dadurch weiter), und die Muskelbündel können sich dank Kapillarkräften quasi in die Tasche am proximalen Schwanzende reinsaugen.

Ein Silikon-Modell der Mikrosäulen offenbarte dem Team außerdem, dass die Höhe der Mikrosäulen mit 100 Mikrometern perfekt eingestellt ist, um Dehnungsenergie ideal aufzunehmen.

Und obwohl die Adhäsionskräfte stark sind: Wenn das Reptil seinen Schwanz zu stark biegt oder dreht, bricht die Verbindung ruckartig ab. Während die Adhäsionskräfte also Zugkräften gut standhalten können, reißen die Schwanzsegmente nach Knicken 17-mal häufiger ab, wie Song et al. berichten.

Die Morphologie des Eidechsen-Schwanzes mit ihren Pilz-förmigen Mikrosäulen und Nanoporen ermöglicht also eine perfekte Balance zwischen Anhaften und Ablösen und erzeugt dadurch eine Schwanzverbindung, die weder zu stark noch zu schwach ist.