glycoRNA

von Juliet Merz (Laborjournal-Ausgabe 9, 2021)


Editorial

(13.09.2021) Wer hätte das gedacht: Zellen glykosylieren RNA (glycoRNA). Diesen überraschenden Fund machte ein US-amerikanisches Team um den RNA-Biologen Ryan Flynn, der 2017 als Postdoc zur Arbeitsgruppe von Carolyn Bertozzi an der Universität Stanford gestoßen war. Mittlerweile ist er Assistenzprofessor am Boston Children‘s Hospital und in der Abteilung für Stammzell- und Regenerative Biologie der Harvard University.

Als Flynn in Bertozzis Labor anfing, hatte er einen ambitionierten Plan: Er wollte das Glykosylierungsdogma stürzen. Lange Zeit war man davon ausgegangen, dass Zellen nur Proteine und Lipide mit Zuckerresten ausstatten. Der Grund für Flynns Zweifel an dieser Theorie war ein Detail eines Stoffwechselweges, bei dem eigentlich cytosolische Proteine glykosyliert werden. Flynn war in dem Mechanismus ein Schlüsselenzym aufgefallen, das eine Besonderheit enthielt: eine RNA-Bindedomäne. Ein Glykosylierungs-Enzym, das potenziell RNA binden kann und auch noch im Cytosol arbeitet, wo sich RNA gerne herumtreibt – da wurde Flynn hellhörig.

Eine neue Biologie

Seine Arbeitsgruppen-Chefin Bertozzi hingegen war zuerst skeptisch, verwarf ihre Vorurteile aber rasch. „Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass [RNA und Zucker] nicht einen Weg gefunden hätten, sich zu verbinden und eine neue Biologie zu schaffen“, so die Biochemikerin im Interview mit The Scientist („Newly Discovered Glycosylated RNA Is All Over Cells: Study“).

Editorial

In Bertozzis Labor hatte Flynn dann Zugang zu Methoden, die er für seine anstehenden Experimente benötigte. Sein erster Ansatz bestand darin, HeLa-Zellen mit verschiedenen Glycan-Labels zu inkubieren und die RNA anschließend zu isolieren – erfolglos. Flynn hatte dabei Glycane des Stoffwechselweges markiert, bei dem er zuvor das Schlüsselenzym mit der RNA-Bindestelle entdeckt hatte.

Stattdessen passierte bei den vermeintlich negativen Kontrollexperimenten etwas Seltsames: Flynn bekam ständig positive Signale. Der US-Forscher hatte die Zellen mit ManNAz inkubiert, einem Azid-markierten Zucker, der Sialoglycane labelt. Sialoglycane sitzen eigentlich an sekretorischen und Zelloberflächenproteinen sowie -lipiden. Nachdem die Zellen ManNAz eingebaut hatten, lysierte Flynn diese mit TRIzol, einem Reagenz, das zwar Zellbestandteile zerlegt, RNA aber verschont. Proteasen zerschnitten die übrigen Proteine. Die Idee hinter der ManNAz-Kontrolle: Weil Sialoglycane an Proteine und Lipide im endoplasmatischen Retikulum und Golgi-Apparat gebunden sind, wo RNAs nichts zu suchen haben, durfte kein Signal erscheinen. Die Ergebnisse von Flynn zeigten aber etwas anderes. Tatsächlich fand die Gruppe RNAs, die mit sialinsäurehaltigen N-Glycanen bestückt waren. Über das Nukleosid Guanosin hatten sich die Zuckerreste an die Nukleinsäure geheftet.

Interessant war auch, welche Transkripte sich hinter den glycoRNAs verbargen. Eine Gruppe stach dabei besonders heraus: YRNAs. Sie trugen die meisten Glycane. YRNAs sind eine Familie von kleinen, hoch konservierten, nicht-codierenden RNAs, deren Zellfunktion noch weitestgehend im Dunkeln liegt. Einzelne Studien lassen vermuten, dass sie eine Rolle bei der Onkogenese und Autoimmunität spielen.

Flynn et al. fanden die glycoRNAs aber nicht nur in HeLa-Zellen, sondern auch in einigen anderen etablierten Zelllinien (zum Beispiel CHO und H9) und sogar in frisch aus der Maus präparierten Leber- und Milzzellen. 2019 veröffentlichte das Team dann einen Preprint auf bioRxiv (doi: 10.1101/787614).

Kritischer Peer Review

Flynn und Bertozzi vermuten, dass die RNAs über ähnliche Mechanismen glykosyliert werden wie Proteine. Ergebnisse aus dem Preprint zeigen, dass gehemmte Schlüsselenzyme von Glykosylierungsprozessen tatsächlich zu reduzierten Mengen an glycoRNAs führten. Auch Zelllinien mit bereits eingebauten Fehlzündungen bei der Proteinglykosylierung produzierten weniger glycoRNAs.

Nach der Veröffentlichung des Preprints stellten sich Flynn und Co. den kritischen Peer Reviewern. Anderthalb Jahre später erschien das Paper nun in Cell, drapiert mit zusätzlichen Ergebnissen (184 (12): P3109-3124.E22). Die wohl wichtigste Ergänzung: Die meisten glycoRNAs verstecken sich nicht etwa im Inneren der Zelle, sondern sitzen in der äußeren Membran. Außerdem tragen die Transkripte auch fukosehaltige Glykane.

Teil des Immunsystems?

Doch die Studie von Flynn et al. hinterlässt mehr Fragen als Antworten. Wie die Zelle die RNAs in der Membran verankert und sie glykosyliert, ist nach wie vor ein Rätsel. Und auch, warum sie das überhaupt tut. Welche Rolle spielen glycoRNAs im Organismus?

Einen Hinweis könnte ein weiteres Detail der Cell-Publikation geben. Wie das Team um Flynn herausfand, werden glycoRNAs von zwei Vertretern aus einer Familie von Immunrezeptoren, den Siglecs, gebunden. Siglecs (Sialic Acid-binding Immunoglobulin-Type Lectins) spielen eine Rolle bei der Immunantwort und bei verschiedenen Krankheiten. Einer der beiden Siglecs ist etwa an der Autoimmunerkrankung Lupus erythematodes beteiligt. Die glycoRNAs könnten also für die Übertragung von Immunsignalen wichtig sein. Wir erinnern uns: Auch YRNAs stehen vermutlich im Zusammenhang mit Autoimmunerkrankungen.

Doch bislang sind das alles nur Spekulationen. Genauso, ob und inwiefern sich glycoRNAs zukünftig möglicherweise in der Medizin nutzen lassen. Vielleicht als Biomarker für Immunerkrankungen oder Krebs? Das steht alles noch in den Sternen geschrieben. Apropos Schreiben: Ob die Herausgeber von Zellbiologie-Lehrbücher sich auch über die neuen Erkenntnisse freuen? Immerhin müssen sie alsbald die Druckerpressen anschmeißen, um die Kapitel über RNA, Biomembran und Co. zu aktualisieren.