Mosaizismus

von Juliet Merz (Laborjournal-Ausgabe 12, 2020)


Editorial

(08.12.2020) Lange Zeit galt der Lehrsatz, dass alle Zellen eines Körpers das gleiche Genom tragen. Heute wissen wir jedoch, dass (nicht nur) der Mensch vielmehr aus Zellen zusammengesetzt, die sich im Erbmaterial durchaus unterscheiden können – und damit einem Mosaik ähnelt, das aus vielen Steinen unterschiedlichster Farben besteht. Mediziner und Biowissenschaftler kennen dieses genetische Mosaik auch unter dem Begriff Mosaizismus; nicht zu verwechseln mit einer Chimäre. Der Unterschied: Der Mosaizismus beschreibt einen Organismus, der aus verschiedenen Zellpopulationen besteht, die sich zwar genetisch oder genfunktionell unterscheiden, aber einer einzigen, befruchteten Zelle, der Zygote, entspringen. Bei einer Chimäre mischen zwar auch genetisch unterschiedliche Zellpopulationen mit, diese stammen aber aus der Verschmelzung verschiedener Zygoten.

Wie die Wissenschaft immer weiter entschlüsselt, ist der Mosaizismus ein durchaus gängiges Phänomen. Im menschlichen Körper gibt es verschiedenste Formen davon. Ein Beispiel sind die roten Blutkörperchen oder Zellen der Pupille. Denn sie kommen im Vergleich zu anderen Zellen unseres Körpers ganz ohne Zellkern aus. Und auch bei der Differenzierung von Lymphozyten schleichen sich Zellen mit abweichendem Erbmaterial ein, indem sie nämlich ihre Gensequenzen ganz individuell miteinander rekombinieren. Hier unterscheiden sich sogar eineiige Zwillinge voneinander.

Editorial

Bei Frauen mit einer XX-Geschlechtschromosomen-Verteilung geht der Mosaizismus sogar noch eine Stufe weiter: Nachdem sich die Zygote während der Embryonalentwicklung schon ein paar Mal geteilt hat und sich mehrere Hundert Zellen gebildet haben, wird per Zufall eines der beiden X-Geschlechtschromosomen zu einem Barr-Körperchen verpackt und damit stillgelegt – der sogenannte epigenetische Mosaizismus. Ein bekanntes Beispiel aus dem Tierreich, bei dem diese X-Inaktivierung phänotypisch sichtbar wird, ist das Schildpatt-Muster bei Katzen.

Dermatologen wissen, dass sich der Mosaizismus auch beim Menschen am ehesten an der Haut erkennen lässt. Vergleichsweise häufig sind die sogenannten Blaschko-Linien, die unter normalen Bedingungen unsichtbar sind und vermutlich die Migration embryonaler Zellen nachzeichnen. Kommt es bei der Embryonalentwicklung jedoch zu Genmutationen, können sich die band- oder wirbelförmigen Areale der Blaschko-Linien auf der Haut farblich absetzen und charakteristische Streifen bilden.

Häufig sind solche somatischen Mosaizismen klinisch jedoch unbedeutend. Manche DNA-Mutationen können aber auch krankheitsrelevant sein. So sind beispielsweise alle Tumore im Körper klonale Mosaike, bei denen die genetische Information so verändert ist, dass die Zellen verstärkt wachsen und gegebenenfalls maligne Eigenschaften besitzen.

In guten wie in schlechten Zeiten

Abgesehen von der für das Immunsystem notwendigen Lymphozyten-Differenzierung kann ein Mosaizismus noch anders positiv wirken. Einen derartigen Fall dokumentierte 2014 ein Team um Dimitra Kiritsi von der Klinik für Dermatologie und Venerologie des Freiburger Universitätsklinikums. Kiritsi hatte Patienten mit der Hautkrankheit Epidermolysis bullosa genauer unter die Lupe genommen (J. Invest. Dermatol. 134(8):2097-2104). Die Haut der Betroffenen ist aufgrund eines Gendefekts äußerst sensibel und bildet schon bei leichtem Druck Blasen. Die vier Hauptformen werden durch Mutationen in 18 unterschiedlichen Genen verursacht.

Doch inmitten der Blasen und vernarbten Hautstellen ihrer Patienten entdeckte Kiritsi gesunde Hautflecken. Der Grund: Die Zellen waren erneut mutiert, was den Gendefekt repariert hatte und wodurch wieder gesunde Hautzellen wachsen konnten. In einem Interview mit dem Spiegel vermutet die Dermatologin, dass die Mosaikzellen nicht zufällig entstehen: „Es könnte sich um einen gezielten Mechanismus des Körpers handeln, sich selbst wieder gesund zu machen.“

Auch bei Trisomie 21 kann Mosaizismus einen positiven Einfluss haben. Manche Menschen mit klinischen Merkmalen des Down-Syndroms, aber relativ guter intelektueller Leistungsfähigkeit, haben Mosaik-Trisomie-21. Bei ihnen haben nicht alle Zellen den dreifachen Satz des Chromosoms 21, sondern sie verfügen aufgrund eines Fehlers bei der Mitose auch über Zelllinien mit normalem (disomen) Chromosomensatz. Häufig ist hier entscheidend, wann der reparierende Mitosefehler in der Embryonalentwicklung aufgetreten ist. Denn je größer der Anteil an disomen Zellen ist, desto eher können die Merkmale des Syndroms abgeschwächt sein.

Mosaizismus findet man aber nicht nur in Menschen und anderen Tieren, sondern auch in Pflanzen. Über die sogenannte programmierte DNA-Eliminierung sind Pflanzen (aber auch verschiedene Metazoen und einzellige Ciliaten) dazu in der Lage, Chromosomenfragmente oder ganze Chromosomen loszuwerden. Wie dieser Prozess in Pflanzen genau funktioniert, war bislang kaum untersucht. Andreas Houben vom Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Pflanzenforschung (IPK) in Gatersleben und sein Team änderten das in diesem Jahr. Houben et al. untersuchten im Ziegengras (Aegilops speltoides), wie die Pflanze überzählige B-Chromosomen während der Embryonalentwicklung ausradiert (Nat. Commun. 11: 2764.). Der Vorfahre unseres Kulturweizens kann bis zu acht dieser sogenannten egoistischen Chromosomen tragen. Interessanterweise kommen sie fast im gesamten Pflanzenkörper vor, nur nicht in den Wurzeln.

Mikroskopaufnahmen zeigten, dass die B-Chromosomen während der Anaphase am Zelläquator festgehalten und dann in Mikrokernen eingeschlossen werden, wo sie anschließend abgebaut werden. Damit kann die Zelle alle B-Chromosomen auf einen Schlag auslöschen.

Aber warum möchte die Pflanze die B-Chromosomen ausgerechnet in den Wurzeln nicht haben? Die Pflanzenbiologen vermuten, dass das Ziegengras auf diese Weise womöglich Gene auf den B-Chromosomen radikal stummschalten möchte, was zur Unterscheidung zwischen Wurzel und Spross beiträgt. Eine weitere Theorie: Die Wurzelzellen möchten sich die Kosten für die Replikation und Aufrechterhaltung großer Mengen unnötiger DNA gerne sparen.



Letzte Änderungen: 08.12.2020