Editorial

Ungewöhnliche Reifezeiten

Was können Zitationsvergleiche ... nicht unbedingt?



Altschul war Taxonom. Seit nunmehr 28 Jahren saß er auf seinem Lehrstuhl. Jetzt war er zu einem großen Festvortrag eingeladen – Thema: Die Rolle der Taxonomie in den modernen Life Sciences.

Lange haderte Altschul mit sich, was er erzählen sollte. Da gab es nämlich eine Sache, die ihn an diesem Thema besonders ärgerte. Und die hatte damit zu tun, dass er die Art und Weise, wie sich die Forschung in den Life Sciences über die letzten Jahre entwickelt hatte, als immer kurzatmiger empfand. "Die Forschung wird immer asthmatischer", pflegte er sich in der Regel darüber lustig zu machen.

Sicher war das unter anderem eine Folge davon, dass immer mehr Leute Life Science-Forschung machten. Exponenziell war die Zahl der Forscher in den letzten zwanzig Jahren gestiegen. Klar, dass dadurch immer mehr Wettbewerb und Konkurrenz entstand, und die Nachwuchsleute in diesem "Rat Race" geradezu gezwungen waren immer schneller publizieren, um nicht aus der Kurve getragen zu werden.



Nur, für die Taxonomie stimmte das ganz und gar nicht. Die Zahl der Taxonomen sank im gleichen Zeitraum stetig. Die Konsequenz: Taxonomische Literatur "altert" viel langsamer und wird nicht annähernd so schnell durch eine Flut nachfolgender Artikel aus dem Bewusstsein geschwemmt wie in den meisten anderen Life Sciences. Ganz im Gegenteil, die meisten Spezies-Beschreibungen datieren etwa zurück bis in die Zeit vor 1900 und sind heute noch aktuell.

Klar daher, dass das Durchschnittsalter der Referenzen in taxonomischen Publikationen viel höher ist als in anderen Disziplinen. Und aus diesem Grund ärgerte sich Altschul auch jedesmal, wenn ihm jemand mit Impact Faktoren und Zitationsanalysen kam.

Insgeheim war es Altschul bereits klar: Genau das würde er bei dem Festvortrag erzählen – Restzweifel hin oder her. Zumal er dazu noch zwei herrliche Studien gefunden hatte. Eine analysierte knapp 2.100 Referenzen aus sieben großen, aktuellen taxonomischen Überblicksartikeln – und ermittelte ein mittleres "Referenzalter" von 61 Jahren bei einem Median von 36 Jahren. Ein anderer Autor fand auf ähnliche Weise in kürzeren taxonomischen Research Papers immerhin noch mittlere "Referenzalter" von rund 45 Jahren. Mit diesen Zahlen, so dachte Altschul, dürfte jedem einleuchten, dass es völliger Blödsinn ist,

Das Ganze wollte Altschul dann noch mit dem Beispiel seiner eigenen Doktorarbeit garnieren, die erst nach knapp zwanzig Jahren begann zu einem der meistzitierten taxonomischen Paper überhaupt aufzusteigen – nur weil damals einer der von ihm beschriebenen Würmer eine Art Modellorganismus für ein bestimmtes entwicklungsbiologisches Problem wurde.

Und als Altschul so darüber nachdachte, kam ihm noch eine Idee. Er sollte den Festvortrag ja vor Pflanzenforschern halten. Und welches war mittlerweile Modellpflanze Nummer eins? Arabidopsis. Er würde das Auditorium fragen: "Wem von Ihnen sagt der Name Johannes Thal etwas?" Er war sicher, dass sich kaum einer melden würde. Wenn überhaupt jemand. "Nun, Johannes Thal war der erste, der Arabidopsis thaliana im 16. Jahrhundert beschrieb", würde er antworten. "Eigentlich hätten die meisten von Ihnen ihn zitieren müssen."

Altschul lächelte. Er begann sich wirklich auf den Vortrag zu freuen.





Letzte Änderungen: 08.09.2004