Editorial

Nicht nur Schmerzen

Publikationsanalyse 2011-2020: Anästhesie- & Schmerzforschung
von Mario Rembold, Laborjournal 4/2022


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Illustr.:Scientific Animations, CC BY-SA 4.0

(12.04.2022) Vielzitierte Schmerzforschung ist vor allem klinische Forschung: Migräne und chronischer Schmerz sind Beispiele. Anästhesiologen dagegen sammeln mit intensivmedizinischen Themen Zitierungen, darunter ganz vorne: die Sepsis.

„No Brain, no Pain“ – dieser Slogan gibt einen Ausblick, wohin die Reise geht, wenn man den Schmerz erforscht. Denn die Qualität „Schmerz“ tritt erst auf, wenn ein neuronaler Reiz als aversiv erlebt wird. Allein ein feuernder Nozizeptor reicht dafür nicht aus.

Durch eine Anästhesie kann man den Schmerz abschalten. Entweder lokal, sodass der Schmerzrezeptor erst gar nicht aktiviert wird, oder erst dahinter auf dem Weg ins Gehirn – oder man knipst vorübergehend gleich das gesamte Bewusstsein aus.

Das Feintuning der Schmerzverarbeitung findet aber nicht nur im Gehirn, sondern auch ganz ohne bewusstes Erleben in der Peripherie statt. Beispielsweise macht eine Entzündung den Schmerzrezeptor samt den nachgeschalteten Synapsen empfindlicher. Auch ein Infekt reguliert die Schwelle für die Schmerzweiterleitung runter – wir alle kennen wohl die „Kopf- und Gliederschmerzen“ während einer Erkältung.

Bei einer Vollnarkose gibt man ebenfalls zusätzlich Medikamente, die Schmerzen und deren Weiterleitung bereits „unterhalb“ des Hirns blockieren. Denn Schmerz ist selbstverstärkend und kann die Synapsen empfindlicher machen, wiederum ganz ohne Gehirn und Bewusstsein. Das will man bei einer OP natürlich vermeiden.

Umgekehrt ist etwa der Phantomschmerz nach der Amputation einer Gliedmaße zu einem großen Teil Kopfsache: Die Areale des verlorenen Körperteils bleiben kortikal noch repräsentiert, ohne dass sinnvolle Eingangssignale hereinkommen. Beim Placebo- und Noceboeffekt wiederum spielt die Erwartungshaltung eine Rolle, doch haben zusätzlich vegetatives Nervensystem und Immunsystem dabei ihre Finger im Spiel.

Kurz gesagt: Es ist kompliziert. Und so gibt es Schmerzexperten unter den Neurophysiologen bis hin zu den Psychologen und Hirnforschern.

Allerlei rund um Operationen

Die Anästhesie dagegen ist ihrem Namen nach wortwörtlich dazu gedacht, Empfindungen auszuschalten. Heute aber geht es in der Anästhesiologie als medizinische Disziplin um sehr viel mehr als das Lahmlegen von Schmerz; vielmehr müssen bei einer Allgemeinanästhesie zusätzlich auch alle Körperfunktionen des Patienten am Laufen gehalten werden: Atmung und Temperatur zum Beispiel. Wer in der Anästhesiologie einer Klinik forscht, publiziert daher meist zu verschiedenen intensivmedizinischen Themen. Das kann der Outcome nach bestimmten Operationsverfahren sein oder die Charakterisierung typischer Komplikationen, die während oder nach der OP auftreten können – und wie man sie vermeiden kann. So kann sich ein Artikel in einem anästhesiologischen Fachblatt auch mal um das Fasten vor der OP drehen, oder um Risikofaktoren rund um die Blutgerinnung bis hin zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Todesursache Nummer 3

Wir wollten in den Artikeln und Reviews natürlich möglichst viel Raum lassen für Arbeiten, die ihren Fokus auf Schmerz, Schmerzlinderung und Narkose legen. Themen, die dementsprechend eher die Herz- und Kreislauf-Forschung betreffen, haben wir ausgeklammert, weil es dafür eine eigene Publikationsanalyse gibt. Was sich jedoch wie ein roter Faden durch die Artikel und Reviews rund um die Anästhesiologie zieht, ist die Sepsis.

Carolin Fleischmann-Struzek und Kollegen schlussfolgerten 2016 im Deutschen Ärzteblatt International (113: 159-66), dass in Deutschlands Krankenhäusern pro Jahr fast 70.000 Patienten an oder mit einer Sepsis versterben. Sepsis gilt demnach hierzulande als dritthäufigste Todesursache, etwa 25 Prozent aller betroffenen Patienten überlebt die Erkrankung nicht. Fleischmann-Struzek ist jedoch nicht unter den meistzitierten Köpfen gelistet, weil sie als SEPFROK-Projektleiterin (Sepsis: Folgeerkrankungen, Risikofaktoren, Versorgung und Kosten) epidemiologische Studien zur Sepsis durchführt und am Institut für Infektionsmedizin und Krankenhaushygiene der Uniklinik Jena tätig ist – damit also nicht an einer anästhesiologisch oder schmerzmedizinisch orientierten Einrichtung arbeitet.

Seniorautor dieser Publikation ist aber Konrad Reinhart, ebenfalls an der Universität Jena zu Hause, dort aber an der Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie. Er gehört damit in die aktuelle Liste der meistzitierten Köpfe, wo er Platz 2 der Tabelle belegt. Ebenso publizieren die Köpfe auf den Positionen 3 und 4 zur Sepsis, namentlich Michael Bauer von der Uniklinik Jena und Herwig Gerlach vom Vivantes-Klinikum Neukölln in Berlin.

Wegen der allgemein großen Brisanz leuchtet natürlich ein, dass man mit dem Schlagwort „Sepsis“ zahlreiche Zitierungen sammeln kann. Vor allem Guidelines und Empfehlungen bringen hier viele Punkte aufs Zitierkonto. Allerdings schaffen sie für unseren Vergleich auch ein Problem. In unseren Paper-Tabellen ordnen wir solche Übersichtswerke zwar den Reviews zu, im Web of Science hingegen sind sie meist in der Kategorie „Articles“ einsortiert. Daher verdankt Bauer mehr als 9.000 seiner 12.729 Zitierungen seiner Mitwirkung an Definitionen für Sepsis und Septischen Schock – eine Arbeit, die wir als meistzitierten Review ermittelt haben.

Kopfsache

Mit über 30.000 Zitierungen führt Hans-Christoph Diener von der Uniklinik Essen mit großem Abstand die Liste der meistzitierten Köpfe an. Mit seinen vielen Artikeln zu Kopfschmerzen und chronischen Schmerzen qualifiziert er sich zwar klar für dieses Ranking. Seine Zitierungen sammelt der Neurologe jedoch nur zum Teil in der Schmerzforschung, da er sich überdies auch noch dem Schlaganfall und dem Vorhofflimmern widmet. Somit relativiert sich die hohe Zitierzahl, wenn man sie allein im Lichte der Schmerz- und Anästhesieforschung betrachten will.

Nach Diener folgt der Nächste, der nicht intensivmedizinisch, sondern recht konkret am Schmerz forscht, erst auf Platz 7: Zaza Katsarava vom Christlichen Klinikum Unna. „Von Haus aus“ ebenfalls Neurologe ist er unter anderem Kopfschmerzen, Migräne und trigeminalen Neuralgien auf der Spur.

Auch die Placebo-Forschung ist unter den meistzitierten Köpfen vertreten, nämlich in Person von Manfred Schedlowski von der Uniklinik Essen. Der Verhaltensimmunologe hat unter anderem auch an Tiermodellen untersucht, wie sich Antworten auf Scheinmedikamente konditionieren lassen – und kann damit sogar Immunreaktionen bremsen. Mehr zu diesem Thema verriet uns Schedlowski bereits 2016 im Rahmen eines Hintergrundbeitrags zum Placebo-Effekt (LJ 6/2016: 6-17).

Grundlagenforschung hat es schwerer

Ebenfalls in Sachen Placebo unterwegs ist Ulrike Bingel, auch arbeitet am Uniklinikum Essen. Ihre 2.781 Zitierungen aus 66 Artikeln reichten aber nicht aus für eine Platzierung unter den Top-30-Köpfen. Dafür taucht ihr Name als Erstautorin des am zehnthäufigsten zitierten Artikels auf. Für diese Studie bekamen Probanden einen Opioid-Agonisten und waren in drei Gruppen aufgeteilt: Eine Gruppe hatte keine besonderen Erwartungen, der zweiten Gruppe wurde ein schmerzlindernder Effekt in Aussicht gestellt und Gruppe drei schließlich wurde mit der Erwartung ins Experiment geschickt, dass sie nun sensibler für Schmerzempfindungen wären. Im Versuch selbst wurden die Probanden dann einem Hitzereiz ausgesetzt. Die Gruppe mit den positiven Erwartungen berichtete schließlich einen doppelt so starken schmerzlindernden Effekt des Opioid-Agonisten wie die Gruppe ohne Erwartungen – in der Gruppe mit der Erwartung höherer Schmerzsensibilisierung blieb die lindernde Wirkung ganz aus. Die Autoren hatten dabei auch via Magnetresonanz ins Gehirn der Versuchspersonen geschaut und entsprechende Unterschiede zwischen den Gruppen festgestellt, die sie daraufhin auf die Erwartungshaltung zurückführten.

Mit solchen und ähnlichen Studien wollen Bingel und Schedlowski grundlegende Mechanismen zur Schmerzverarbeitung aufdecken. Doch wie so oft in unseren Publikationsanalysen sind es klinische Beiträge, die auf die ganz hohen Zitierzahlen kommen. Grundlagenforscher haben es nach diesem Kriterium also deutlich schwerer, wahrgenommen zu werden. Daher auch hier der immer wieder aufs Neue wiederholte Hinweis, dass die Zitierzahlen allein kein Indikator für gute oder schlechte Forschung sind. Vielmehr kann man sie als Wegweiser verstehen, welche Themen innerhalb einer ausgewählten Community gerade besondere Aufmerksamkeit genießen.

Im Vergleich zum erwähnten Artikel auf Platz zehn kommt der am häufigsten zitierte Artikel zur Medikation neuropathischer Schmerzen mit 1.595 Zitierungen fast auf die vierfache Zitierzahl. Mitgeschrieben hat ihn Ralf Baron (9.) von der Neurologischen Uniklinik in Kiel.

Werfen wir noch einen Blick auf die regionale Verteilung: Der Name „Jena“ ist bereits einige Male gefallen, und tatsächlich taucht die Universitätsstadt in Thüringen mit vier Erwähnungen am häufigsten auf. Es folgen gleichauf Berlin, Essen und Frankfurt/M., wo jeweils drei der meistzitierten Köpfe irgendwann im Analysezeitraum ein Türschild hatten. Insgesamt verteilen sich Anästhesie- und Schmerzforscher aber ziemlich homogen im Bundesgebiet. Zwei der Köpfe sind in der Schweiz tätig, nämlich Donat Spahn (11.) vom Universitätsspital Zürich und Robert Greif (24.) vom Berner Inselspital. Österreich geht diesmal leer aus.

Immerhin vier der Top-30-Köpfe sind weiblich. Ausgeglichen ist das nicht, aber der Frauenanteil war in anderen Disziplinen auch schon schlechter. Angeführt wird die Damen-Riege auf Platz 5 von Herta Flor vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) Mannheim, die insbesondere den Mechanismen des Phantomschmerzes nachspürt. Wer zu diesem Thema noch mehr wissen will, den verweisen wir an dieser Stelle allerdings weiter zum folgenden Interview aus dem Jahr 2016 mit ihr: www.laborjournal.de/editorials/1062.php.


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Letzte Änderungen: 12.04.2022