Auf Augenhöhe?

Publikationsanalyse 2010-2019: Augen- und Sehforschung
von Mario Rembold, Laborjournal 9/2021


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Foto: AdobeStock / sinhyu

Editorial

(13.09.2021) Altersbedingte Makuladegeneration ist das am häufigsten zitierte Schlagwort in der Augenforschung. Technikexperten arbeiten an elektronischen Retina-Implantaten und optischer Kohärenztomografie.

Rund fünfzig Prozent aller Augenärzte sind Frauen, berichtet die Webseite gesundheitsmarkt.de in einem Beitrag vom 11. Mai 2021. Klingt ausgeglichen. Mehr noch: Unter den niedergelassenen Augenärzten liegt der Frauenanteil demnach sogar bei annähernd sechzig Prozent. Ganz anders in der Forschung: Zumindest diejenigen, deren Artikel am häufigsten zitiert werden, sind fast ausschließlich männlich. Gerade mal zwei Frauen tauchen in unserer aktuellen Liste der meistzitierten Köpfe aus der Augen- und Sehforschung auf. Auch im Januar 2016, beim letzten Publikationsvergleich dieser Disziplin, sah es mit vier Frauen unter fünfzig Köpfen ähnlich aus.

In beiden Vergleichen vertreten ist Ursula Schlötzer-Schrehardt von der Uniklinik in Erlangen. Vor fünf Jahren hatten wir sie interviewt und nicht nur zu ihrer Forschungsarbeit befragt, sondern mit ihr auch über den geringen Frauenanteil gesprochen (Link). Ob das nun speziell die Augenforschung betreffe, könne sie nicht beurteilen. Sie berichtete uns aber über einen kontinuierlichen Frauenschwund auf der akademischen Karriereleiter und bezog sich auf die Humanmedizin an ihrer Uni. 65 Prozent der Studienanfänger seien demnach weiblich, später 63 Prozent der Promotionsprüflinge – aber nur noch 20 Prozent der Habilitierten. Übrig bleibe ein Frauenanteil von 11 Prozent unter den Professoren.

Editorial

Beide im aktuellen Ranking vertretenen Frauen – Ursula Schlötzer-Schrehardt (22.) und Ursula Schmidt-Erfurth (3.) – waren auch 2016 unter den fünfzig meistzitierten Köpfen. Die dritte Frau in den damaligen Top 50 war Sabine Binder aus Wien, damals auf Platz 27. Binder ist in der aktuellen Top-30-Liste nicht mehr vertreten. Sie wäre mit ihren 70 Artikeln und 2.016 Zitierungen etwa auf Position 50 gelandet.

Keine sicheren Jobs im akademischen Mittelbau

Nun sind beide Publikationsanalysen nicht nur wegen der unterschiedlichen Köpfe-Zahl lediglich bedingt vergleichbar, sondern auch weil sie unterschiedliche Analysezeiträume berücksichtigen: Damals waren es die Jahre 2010 bis 2014, jetzt die Jahre 2010 bis 2019. Sabine Binder hatte in den ersten fünf Jahren des Analysezeitraums 49 Artikel publiziert und damit auch die meisten ihrer Zitierungen eingefahren – mehr als 1.800 an der Zahl. In den folgenden fünf Jahren kamen „nur“ noch 21 Artikel hinzu. Natürlich ist das ein Einzelbeispiel, und wir kennen Binders persönlichen Hintergrund nicht. Doch es passt zum Eindruck, dass sich viele Frauen früh aus der Forschung zurückziehen. Schlötzer-Schrehardt mahnte im Interview 2016, nicht nur auf Frauenquoten in Führungspositionen zu schauen. Das Karriereschema in der Wissenschaft sei frauen- und familienfeindlich, weil es zwischen Studium und Professur an unbefristeten Stellen fehle.

Gerade bei der Familienplanung wird klar: Eigentlich sollte man als Professorin erst irgendwann um Mitte 40 schwanger werden, mit dem Festvertrag in der Hand – oder aber die universitäre Forschung verlassen und sich einen anderen Job suchen.

So weit der diesmal etwas ausführlichere Blick auf den Frauenanteil. Kommen wir nun aber zu den Themen der Augenforscher. Da ist vorneweg eine Gruppe von Erkrankungen zu nennen: die Makuladegeneration. Innerhalb der Makula oder des „Gelben Flecks“ liegt der Ort des schärfsten Sehens auf der Netzhaut, mit dicht gepackten Rezeptoren für das Farbsehen. Kommt es hier zu Komplikationen bei der Versorgung mit Sauerstoff und Nährstoffen, können Sinneszellen absterben. Speziell die altersbedingte Makuladegeneration (AMD) gilt als häufigste Ursache für Blindheit und Seheinschränkungen in Europa. Und dementsprechend werden auch Forschungsarbeiten hierzu mitunter zahlreich zitiert.

Top-Thema Makuladegeneration

So auch der am häufigsten zitierte Artikel im Vergleich, der die Wirksamkeit eines Wirkstoffs unter die Lupe nimmt, der an vaskuläre endotheliale Wachstumsfaktoren (VEGF) bindet (VEGF-Trap-Eye). Bei der „nassen“ Form der Makuladegeneration bilden sich unreguliert neue Blutgefäße, wobei VEGF-Proteine wichtige Signalgeber sind. VEGF-Trap-Eye blockiert VEGF, bevor es an seinen Rezeptor binden kann, und stoppt so idealerweise die unkontrollierte Bildung neuer Blutgefäße. An dieser klinischen Studie haben gleich drei der Top-30-Köpfe mitgewirkt: Ursula Schmidt-Erfurth (3.) und Christian Simader (6.) aus Wien sowie Bernd Kirchhof (24.) von der Uniklinik Köln.

Mehr als ein Drittel der meistzitierten Augenforscher widmet sich zumindest in einigen ihrer meistzitierten Artikel der AMD. Klar, dass hierbei auch die Jagd nach Risiko-Loci im Genom nicht zu kurz kommen darf. So geschehen im Artikel auf Platz 8. Das mehr als 160 Namen lange Autorenverzeichnis listet unter anderem auch Hendrik Scholl (16.) vom Institut für Molekulare und Klinische Ophthalmologie (IOB) in Basel sowie den zweitplatzierten Frank Holz von der Bonner Uniklinik.

Ganz vorn in Sachen Bildgebung steht bei den Augenforschern die optische Kohärenztomografie – kurz OCT. Mit der OCT lassen sich dreidimensionale Aufnahmen an Strukturen erstellen, innerhalb derer Stoffe mit unterschiedlichem Brechungsindex aufeinanderstoßen. Daher kommt die Methode zum Beispiel für die Diagnostik des Augenhintergrunds zum Einsatz. Folgerichtig finden hier aber nicht nur Mediziner, sondern auch Physiker und Informatiker zur Augenforschung. Der meistzitierte unter ihnen ist Joachim Hornegger (4.), dem als Präsident der Universität Erlangen-Nürnberg inzwischen wohl weniger Zeit für die Forschung bleiben dürfte. Mitgeschrieben hat Hornegger am Artikel mit den zweithäufigsten Erwähnungen. Darin berichten die Autoren über ein Verfahren, mittels OCT den Blutfluss zu detektieren und Blutgefäße in vivo am menschlichen Auge sichtbar zu machen. Mit Martin Kraus (15.) taucht ein weiterer Computerwissenschaftler der Uni Erlangen-Nürnberg unter den Autoren auf.

Technikaffin geht es auch bei Eberhardt Zrenner (11.) am Forschungsinstitut für Augenheilkunde der Uniklinik Tübingen zu, der blinden Menschen mithilfe elektronischer Chips wieder zu ein wenig Sehen verhilft. Am selben Institut ist auch Karl Bartz-Schmidt (17.) tätig, der mit Zrenner auch als Co-Autor des Artikels auf Platz 9 auftaucht: Blinden Probanden hatten die Wissenschaftler jeweils einen Chip mit 1.500 Photodioden unter die Netzhaut implantiert. Zwar entsprechen die Bilder dabei nur einer Auflösung von 38 mal 40 Pixeln, trotzdem profitierten die Studienteilnehmer davon. Einer der Probanden sei später sogar in der Lage gewesen, Menschen im Raum zu erkennen und Worte bestehend aus großen Buchstaben zu lesen, berichten die Forscher.

Input aus anderen Feldern

Um unter den Top 30 zu landen, musste man zumindest einen signifikanten Teil eigener Veröffentlichungen in ophthalmologischen Fachblättern platziert haben oder von der Institutsadresse her als Augenforscher erkennbar sein. Somit fallen Neurowissenschaftler heraus, die die Netzhaut allein als „Verschaltungsmodell“ einsetzen, ohne explizit am Sehprozess Interesse zu zeigen. In der Grauzone zur Humangenetik haben wir Bernhard Weber (9.) aus Regensburg genauer unter die Lupe genommen und schließlich mit aufgenommen. Vor allem mit seinen Artikeln zur Makuladegeneration taucht er 38-mal in Zeitschriften mit klarem Fokus in der Augenforschung auf.

Auch Endokrinologe Hans-Peter Hammes (18.) aus Mannheim gibt sich nicht auf den ersten Blick als Augenforscher zu erkennen. Siebzig seiner einhundert Artikel enthalten aber ophthalmologische Schlüsselworte, da einer seiner Schwerpunkte speziell auf Netzhauterkrankungen als Folge von Diabetes liegt.

Schließlich ließe sich noch über Rupert Sandbrink (8.) streiten, der als klinischer Pharmakologe bei diversen Pharmaunternehmen beschäftigt war – im Analysezeitraum zum Beispiel in Düsseldorf und Berlin. Einige seiner Projekte drehten sich um Neuroimmunologie und Multiple Sklerose, allerdings hat er außerdem regelmäßig zu Erkrankungen der Retina publiziert.

Wie oft wird man als erfolgreicher Augenforscher nun zitiert? Auch diesmal sei zum wiederholten Male erwähnt, dass eine Co-Autorschaft auf einem reichlich zitierten Paper einen Forscher nicht zwangsläufig zur Koryphäe seiner Disziplin macht. Umgekehrt findet wichtige und erfolgreiche Forschung manchmal auch mit wenigen Zitierungen statt. Wie dem auch sei: Mit knapp 2.600 Zitierungen im Analysezeitraum hatte man die Eintrittskarte für die dreißig meistzitierten Köpfe. Je weiter wir uns den Top Ten nähern, desto mehr steigen die Zahlen ganz allmählich an – mit 4.580 auf Platz 10. Einen Sprung gibt es aber von Platz 4 mit 6.133 Zitierungen auf die Plätze zwei und drei mit 10.118 und 10.983 Zitierungen. Von zwei auf eins verzehnfachen sich die Zitierzahlen beinahe: Fast 97.000 Erwähnungen bringt Jost Jonas von der Uniklinik Mannheim auf die Waage. Allerdings hat Jonas über die Jahre an dutzenden Arbeiten zur Global-Burden-of-Disease-Studie mitgewirkt. Diese sind im Web of Science fast alle als „Articles“ gelistet und werden enorm häufig zitiert, doch nur wenige davon haben einen Fokus speziell auf Augenerkrankungen.

Der Süden liegt vorn

Zu guter Letzt werfen wir noch einen Blick auf die regionale Verteilung: Die Universität Erlangen-Nürnberg taucht ebenso wie die Uniklinik Tübingen jeweils viermal als Adresse der Köpfe auf. Nehmen wir noch Freiburg, München und Regensburg dazu, so bildet der südliche Teil Deutschlands mit elf Augenforschern den regionalen Hotspot. Doch welcher Franke möchte schon mit Bayern oder Badenern in einen Topf geworfen werden?

Bleiben wir also lieber bei den einzelnen Städten und stellen fest: Vier der meistzitierten Köpfe sind oder waren im Analysezeitraum in Wien tätig, sodass Österreich gleichauf liegt mit Erlangen und Tübingen. Es folgen Basel, Bonn und Köln, die jeweils drei Augenforschern ein Zuhause boten.

Fazit: Wenn Sie das nächste Mal bei Ihrer Augenärztin sitzen und sich mit einem neu entwickelten Gerät auf die Retina schauen lassen, fragen Sie sie doch mal, ob sie vielleicht selbst einst in der Augenheilkunde geforscht hat. Natürlich sollten wir dankbar sein, dass es Ärztinnen gibt, aber vielleicht entgeht uns ja gerade eine neue Therapie, weil ausgerechnet Ihre Augenärztin schweren Herzens ein Projekt abbrechen musste.


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Letzte Änderungen: 13.09.2021