Editorial

Kandidatengene, Krebs und Schlaganfall

Publikationsanalyse 2012-2016: Neurowissenschaften, klinischer Teil
von Mario Rembold, Laborjournal 05/2018


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Illustr. : Fotolia / Sergey Nivens

Klinische Neurowissenschaftler sind häufig auch Humangenetiker oder Krebsforscher – oder alles zusammen. Insbesondere die Jagd nach krankheitsrelevanten Genloci bringt Zitierungen aufs Konto.

Mit den Neurowissenschaften schauen wir auf eine große und auch heterogene Forschergemeinde. Bei jedem einzelnen Wissenschaftler ist der Bezug zu Nerven oder Gehirn zwar klar erkennbar, trotzdem würden wir den unterschiedlichen Projekten kaum gerecht, wenn wir alle Neuroforscher für einen Publikationsvergleich in denselben Topf werfen. Daher teilen wir auch in der aktuellen Analyse die Neurowissenschaften in zwei Blöcke auf, nämlich in die klinische und die nicht-klinische Neuroforschung. Diesen Monat sind die Kliniker an der Reihe.

Nun würden wir für eine saubere Publikationsanalyse gerne jedem Neuroforscher eindeutig den Stempel „Klinisch“ oder „Nicht-klinisch“ aufdrücken. Ganz so einfach ist die Zuordnung dann aber doch nicht. Klar, wer in einer neurologischen Klinik arbeitet und für seine Forschung ausschließlich auf Patientenfälle zurückgreift, der gehört in die aktuelle Liste. Was ist aber mit denjenigen, die sich für Fehlfaltungen von Proteinen und deren Rolle bei neurodegenerativen Krankheiten interessieren? Solch ein Wissenschaftler kann klinisch forschen; er kann aber auch weit weg vom Patienten mit Zell- oder Mausmodellen arbeiten und würde sich dann wohl nicht als „Kliniker“ bezeichnen. Dass es dazwischen alle möglichen Grauzonen gibt, dürfte klar sein.

Publikationen entscheiden

Und wohin sortieren wir jemanden, der über genomische Assoziationen nach Ursachen für psychiatrische Erkrankungen sucht? Solch ein Forscher muss nicht in einem neurologischen Klinikum zu Hause sein, dennoch ist er für seine Studien auf Probenmaterial von Patienten angewiesen und erforscht Krankheitsursachen. Oder lernt man aus den Genloci, die mit psychiatrischen Störungen in Verbindung stehen, nicht auch – oder gerade – etwas über die Genetik des gesunden Gehirns?

Es wäre müßig, all die Einzelfälle „zwischen den Stühlen“ bis ins Detail auszudiskutieren. Daher haben wir uns für einen pragmatischen und möglichst objektiven Weg entschieden: Wie bereits im letzten Neuro-Vergleich halten wir uns an die Kategorien, die das Web of Science den Fachblättern zuteilt. Wer in den Sparten „Clinical Neurology“ und „Psychiatry” insgesamt auf mehr Artikel kommt als in der Kategorie „Neurosciences“, den haben wir als Kliniker einsortiert. Wir gehen davon aus, dass ein Wissenschaftler seine Ergebnisse dann auch in diesen Forscherkreisen diskutiert und wahrgenommen haben will.

Die regelmäßigen Leser unserer Rubrik werden beim Blick auf die „Köpfe“-Liste ein Déjà-vu erleben. Angefangen bei Markus Nöthen (1.) von der Uniklinik Bonn, der bereits die meistzitierten Humangenetiker anführte – und die haben wir Ihnen ja erst im letzten Heft vorgestellt. Nöthen publizierte im Analysezeitraum aber regelmäßig in Fachzeitschriften zur klinischen Neurologie. Genetische Assoziationsstudien zu Schizophrenie und anderen Psychosen sind ein Schwerpunkt seiner Forschungsarbeit. Nach den zuvor definierten Kriterien gehört er also in die Liste.

Zudem taucht Nöthen immer wieder zusammen mit anderen klinischen Neuroforschern in den Autorenlisten auf. So im meistzitierten Artikel des Analysezeitraums, der 108 Genloci vorstellt, die mit Schizophrenie assozieiert sein sollen. Daran mitgeschrieben haben unter anderem Wolfgang Maier (6.) aus Bonn und Dan Rujescu (8.) aus Halle, beide tätig in universitätsklinischen Abteilungen, die jeweils auf Psychiatrie und Psychosomatik spezialisiert sind. Oder Sven ­Cichon (9.) aus der Abteilung Neurowissenschaften und Medizin am Forschungszentrum Jülich.

Diese drei sind schon ihren Institutsbezeichnungen nach Neuroforscher, aber sie stehen ebenso wie Nöthen in der Liste der meistzitierten Humangenetiker. Allein in den Top Ten gibt es neun Autoren, die in beiden Rankings auftauchen. Bei der Erforschung neuropsychiatrischer Erkrankungen spielt also die Genomik eine große Rolle, sodass man bei einigen Autoren beide Welten nicht streng voneinander trennen kann. Auch auf Statistiker und Epidemiologen verzichtet die Klinische Neuroforschung nicht. So hat Marcella Rietschel (11.) an dem erwähnten meistzitierten Artikel mitgeschrieben – sie leitet die Abteilung „Genetische Epidemiologie in der Psychiatrie“ am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim.

Dreifache Überlappungen

Ebenso überlappt sich die aktuelle „Köpfe“-Liste mit den Onkologen, wobei man hier mit Recht fragen mag, wie viel Neuroforschung jemand betreibt, der sich eigentlich für Krebsentstehung interessiert – auch wenn es um Tumore des zentralen Nervensystems geht. Allerdings sind viele dieser Forscher explizit in neuroonkologischen Abteilungen zu Hause und veröffentlichen in Journalen zur klinischen Neurologie. Stefan Pfister (2.), Marcel Kool (3.), Andreas von Deimling (4.) und David Jones (5.), alle am Deutschen Krebsfoschungszenrtum (DKFZ) in Heidelberg tätig, zählen wir daher zu den klinisch orientierten Neuroforschern. Und ja, Pfister, Kool und Jones sind ebenfalls Humangenetiker, denn sie publizieren vor allem zu genetischen Hotspots in Gliomen, Medulloblastomen und anderen Wucherungen im zentralen Nervensystem.

Zugegeben, eine solchermaßen dreifache Überlappung von Forschungsrichtungen wollen wir eigentlich vermeiden. Pessimistisch ausgedrückt verwässert unser Blick auf die Disziplin durch diese Unschärfe. Doch womöglich zeichnet gerade das den aktuellen Stand der Klinischen Neuroforschung aus: In diesem Feld sind derzeit Erkenntnisse aus Humangenetik und Onkologie gefragt, wenn man auf die vielzitierte Forschung schaut.

Neuro am Neckar

Den Krebsforschern in der Liste ist es übrigens zu verdanken, dass sich die Klinische Neuroforschung im Neckarraum bündelt: Neun unserer „Köpfe“ waren zwischen 2012 und 2016 am DKFZ tätig, insgesamt finden wir Heidelberg dreizehn Mal in der Liste. Das rund zwanzig Kilometer entfernte ZI Mannheim taucht fünfmal auf, sodass besagte Region rund einem Drittel der meistzitierten Forscher ein Zuhause bietet oder geboten hat.

Wo wir gerade bei der regionalen Verteilung sind: Am zweithäufigsten nach Heidelberg taucht Bonn mit sieben Nennungen auf, dicht gefolgt von sechs Forschern mit Adresse in München. Die Nachbarn in Österreich und der Schweiz bleiben diesmal etwas abgeschlagen zurück, mit nur vier Forschern aus Basel, Wien und Zürich.

Schauen wir in die Liste der meistzitierten Artikel, so fallen drei Arbeiten zum Schlaganfall auf den Plätzen 4, 5 und 6 ins Auge. Auch hier mag man einwenden, dass ein direkter Bezug zu den Nervenzellen fehle, wenn es doch primär um den Einsatz von Blutverdünnern oder Stents geht. Doch wir sprechen nun mal von der Klinischen Neurowissenschaft – und Schlaganfallpatienten werden eben in neurologischen Abteilungen betreut. Und Neurologen sind es auch, die diese als Probanden für Forschungsprojekte gewinnen. Hier kommen zum Beispiel Neuroradiologen wie Hans-Christoph Diener (13.) von der Uni Duisburg-Essen und Rüdiger von Kummer (28.) von der Technischen Universität Dresden ins Spiel.

Natürlich beeinträchtigen Läsionen des Gehirns auch die neuronalen Funktionen – egal, ob Schlaganfall, Hirntumore oder andere „Schäden“ die Ursache sind. Die Fragestellungen sind in der Regel aber andere als die der nicht-klinischen Neurowissenschaftler, die ihren Probanden mitunter ebenfalls per Bildgebung in den Kopf schauen. Ein weiterer Punkt also, der für die Auslagerung der Klinischen Neuroforschung als eigenen Zweig spricht.

Alkohol und Traumata

Unstrittig neurologisch unterwegs ist Ludwig Kappos (20.) vom Universitätsspital Basel. Er war im Analysezeitraum an diversen klinischen Studien zur Multiplen Sklerose beteiligt. Auch Ralf Gold (47.) aus Bochum interessiert sich für Neuroimmunologie und hat hierzu viel in klinischen Neuro-Journalen veröffentlicht. Ein weiterer Sonderfall, der zwischen Genloci-Jägern und Hirntumor-Experten hervorsticht: Andreas Heinz (23.), der an der Berliner Charité mittels Bildgebung die Aktivität im präfrontalen Cortex untersucht und spezifischen Zusammenhängen mit Alkoholismus auf der Spur ist.

Unterm Strich fällt das große Interesse der klinischen Neuroforscher an genetischen Zusammenhängen auf. Selbst zu den klassischen psychiatrischen und psychosomatischen Erkrankungen wie Schizophrenie, Depressionen und Angststörungen kommen die meisten Zitate durch Veröffentlichungen zusammen, die einen Blick ins Genom werfen. Vereinzelt stößt man dabei auch auf die Epigenomik mit der gerne plakativ gestellten Frage, ob sich etwa Traumata in die nächste Generation vererben. So ist Elisabeth Binder (36.) vom Münchener Max-Planck-Institut für Psychiatrie die Senior-Autorin einer Arbeit, welche die Methylierung des FKBP5-Gens zum Thema hat. Den Ergebnissen nach ist dieses Gen bei Holocaust-Überlebenden häufiger methyliert als bei Kontrollprobanden. Und diese Methylierung fand man auch bei deren Nachkommen häufiger (Biol. Psychiatry 80(5): 372-80). Mit nur 68 Zitierungen finden wir diese Publikation aber nicht unter den zehn meistzitierten Artikeln.

Was die hochzitierten klinischen Paper betrifft, die in irgendeiner Weise Genomsequenzen zum Thema haben, so vermisst man übrigens oft konkrete Erkenntnisse, die über eine bloße statistische Verknüpfung mit einem Krankheitsbild hinausgehen. Am Ende des Tages bringen die unzähligen Kandidaten-Gene die klinische Neuroforschung nur dann weiter, wenn man daraus auch klinisch relevante Schlussfolgerungen ableiten kann. Doch das wissen die verantwortlichen Studienleiter natürlich selbst.


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Letzte Änderungen: 08.05.2018