Feinarchitektur des Lebens

Publikationsanalyse 2012-2016: Zellbiologie
von Mario Rembold, Laborjournal 03/2018


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Zelle
Illustr. : Fotolia / Andrea Danti
Editorial

Zellbiologen gibt es inzwischen in vielen Disziplinen. Nicht zuletzt auch, weil vielerorts das Interesse an Stammzell-Differenzierung gewachsen ist. Andere Experten untersuchen mechanische und biophysikalische Eigenschaften von Zellen.

Angenommen, alle naturwissenschaftlichen Erkenntnisse wären ab morgen ausgelöscht aus den Aufzeichnungen und Erinnerungen der Menschen. Doch vorher gäbe Ihnen eine gute Fee die Möglichkeit, eine einzige Aussage über die Natur für die Welt danach festzuhalten. Richard Feynman erklärte einst, er würde dann folgenden Satz notieren: „Alle Dinge bestehen aus Atomen.“ Nun war Feynman Physiker. Vielleicht hätte sich ein Biologe analog dazu für folgenden Nachlass entschieden: „Alle Lebewesen bestehen aus Zellen.“

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Zumindest hier auf der Erde gilt diese Aussage, doch auch andernorts im Universum dürfte Leben kaum vorstellbar sein, wenn es sich nicht von der Umwelt abgrenzt, um sich abgeschlossene „Reaktionsgefäße“ zu schaffen. Die Zelle ist die kleinste Einheit des Lebens. Fehlt sie – wie etwa bei einem Virus – dann fehlen auch grundlegende Eigenschaften des Lebens wie Stoffwechsel und Reproduktion. Wer das Leben verstehen will, der muss also auch etwas über die Funktion von Zellen wissen.

Weil die Zellbiologie überall in den Lebenswissenschaften Spuren hinterlässt, wird die Abgrenzung als Einzeldisziplin zu einer Herausforderung. Königskriterium waren wie bei den meisten unserer Publikationsanalysen die Journals, in denen ein Autor im Analysezeitraum veröffentlicht hat. Wir wollten diejenigen herausfischen, die einen signifikanten Anteil ihrer Publikationen in zellbiologischen Fachzeitschriften platziert hatten. Das allein reichte aber nicht, um einen Forscher eindeutig als Zellbiologen einzuordnen. Denken wir an eine Zeitschrift wie Cell, in der es auch mal um klar Molekularbiologisches oder Biochemisches wie etwa Protein-Protein-Interaktionen gehen kann.

Architektur-Studien

Reine Proteinforscher oder Molekularbiologen sollten folglich aus der Analyse der Zellbiologen draußen bleiben. Trotzdem bleiben die Grenzen zur Zellbiologie fließend. Denn wie bewertet man etwa, wenn jemand die Dynamik von Mikrotubuli erforscht? Hier geht es um Interaktionen von Proteinen, die sich zu Filamenten arrangieren; hier geht es aber auch um die Architektur einer Zelle, um Strukturen, die sie stützen und ihr Bewegung ermöglichen. Auch bei den Protein- und Biochemieexperten mussten wir also genau hinschauen.

So stießen wir etwa auf Frank Jülicher, der den Bau der Flagellen untersucht, aber auch Zelladhäsion erforscht. Seine Dienstanschrift in Dresden – am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme – deutet erstmal gar nicht auf Zellbiologie hin. Seine Forschungsthemen hingegen sehr wohl. Und deshalb belegt er hier Rang 19 der meistzitierten Köpfe. Oder Anthony Hyman (13.) vom MPI für Molekulare Zellbiologie und Genetik, ebenfalls in Dresden. Hyman publiziert viele biochemische Artikel, klärt dabei aber Prozesse zur Organisation des Zellplasmas und der Zellpolarität auf und möchte wissen, wie Zellen ihre Kompartimente abgrenzen.

Auch einige Genetiker veröffentlichen gern in zellbiologischen Journals. Die Umsetzung der Erbinformation in RNA oder Proteine hat zwar etwas mit der Zelle zu tun, doch würden sich wohl die wenigsten Genetiker die Bezeichnung „Zellbiologe“ auf die Visitenkarte drucken. Die Molekulargenetik hat sich nun mal längst von der Zellbiologie emanzipiert und eine eigene Richtung etabliert, für die wir hier ein eigenes Ranking führen.

Stammzellen machen‘s möglich

Kompliziert wird es trotzdem bei den Wissenschaftlern, die Stammzell-Eigenschaften erforschen oder Pluripotenz induzieren. Hier verwischen die Grenzen zur Genetik. Martin Zenke (33.) von der RWTH Aachen zum Beispiel untersucht genetische Programme und epigenetische Modifikationen, die für die Differenzierung von Stammzellen relevant sind. Sein Blick liegt dabei jedoch auf der Identität von Zellen samt den Einflüssen, die diese Identität ändern. Wir führen ihn deshalb als Zellbiologen.

Weil das Interesse an Stammzellen in vielen Disziplinen gestiegen ist, rutschten auf diese Weise einige Namen unter die Zellbiologen, die wir zuvor noch als fachfremd eingestuft hätten. Axel Schambach (7.) von der Medizinischen Hochschule Hannover zum Beispiel erforscht hämatopoetische Stammzellen und reprogrammiert ausdifferenzierte Zellen. Andreas Trumpp (16.) vom DKFZ in Heidelberg ist Krebsforscher. Doch auch er arbeitet nah an der Zelle und fragt sich, unter welchen Bedingungen Stammzellen einen malignen Entwicklungsweg einschlagen.

Auf Platz drei finden wir mit Mathias Heikenwälder einen weiteren Krebsforscher aus Heidelberg. Nun gibt es gerade in der Onkologie ebenfalls eine riesige Grauzone in Sachen Zellbiologie. Nicht berücksichtigt haben wir letztlich jene Tumorexperten, die lediglich molekulare Profile von Krebszellen ermitteln oder Inhibitoren und Zytostatika in Zellkulturen testen. Bei diesen Studien steht schließlich die Diagnostik oder Therapie von Krebs im Mittelpunkt, und die dahinterstehenden Zellfunktionen sind zweitrangig.

Auch in der Neurobiologie interessiert man sich mehr und mehr für Stammzellen und Neurogenese, weshalb etwa Magdalena Götz (9.) vom Helmholtz Zentrum München in der aktuellen „Köpfe“-Liste auftaucht. Sie ist gleichzeitig ein Beispiel für die Schnittmenge zwischen Entwicklungs- und Zellbiologie. Ebenso stehen Jürgen Knoblich (20.) und Jiri Friml (5.) in beiden Rankings. Mit Friml vom Institute of Science and Technology Austria in Klosterneuburg schaffte es auf diese Weise auch ein Pflanzenforscher unter die meistzitierten Zellbiologen.

Weiterhin bestimmen mechanische Signale das Verhalten einer Zelle. Dazu gehört zum Beispiel, wie fest oder locker eine Zelle in der extrazellulären Matrix verankert ist. Stichworte wie Zelladhäsion und Mechanotransduktion tauchen daher regelmäßig im Zusammenhang mit der zellulären Biophysik auf. Joachim Spatz (8.) vom MPI für Medizinische Forschung in Heidelberg forscht auf diesem Gebiet. Oder Reinhard Fässler (28.), der am MPI für Biochemie in Martinsried mechanischen Signalen und den Interaktionen mit dem Zytoskelett auf der Spur ist.

Außerdem haben wir uns entschieden, auch ein paar Namen aus den Reihen der Strukturbiologen aufzunehmen. Wolfgang Baumeister (15.), ebenfalls am MPI für Biochemie tätig, ist Experte für Elektronenmikroskopie. Dabei macht er Aktin-Netzwerke und die Architektur von Organellen sichtbar, ist also klar am Aufbau der Zelle interessiert. Speziell für die Kryo-Elektronenmikroskopie zu Rate ziehen kann man Henning Stahlberg (36.) vom Biozentrum der Uni Basel. Wir bleiben in Basel und stoßen dort in einem Ableger-Institut der ETH Zürich auf Daniel Müller (43.), der Zellen mit dem Rasterkraftmikroskop abtastet und dabei Membranproteine und Zelladhäsion studiert.

Physiologische Zellbiologie

Ein Wiedersehen gibt es mit einer ganzen Reihe von Physiologen – auf Platz eins mal wieder Florian Lang von der Uni Tübingen. Der Nierenforscher hat im Analysezeitraum gut die Hälfte seiner Artikel in zellbiologischen Fachzeitschriften platziert, mit Themen wie Membrantransport oder dem kontrollierten Zelltod von Erythrozyten. Sieben weitere Autoren der Liste hatten zwischenzeitlich bei Lang gearbeitet, und insgesamt taucht Tübingen neunmal auf und ist damit wie zuletzt in der Physiologie die am stärksten vertretene Stadt unseres Rankings.

Editorial

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Am zweithäufigsten in Sachen „räumlicher Verteilung“ schneidet übrigens die Region um München ab, wo acht Forscher im Analysezeitraum tätig waren. Fünf von ihnen am MPI für Biochemie in Martinsried. Auch die Schweiz schlägt sich gut, denn Basel folgt auf Platz drei mit sechs Zellforschern, die hier zu Hause sind. Und fünf Forscher der Liste haben irgendwann im Analysezeitraum in Heidelberg Zellen untersucht.

Man könnte noch viele weitere Beispiele für zellbiologische Forschung nennen, die von einzelnen „Köpfen“ der Liste repräsentiert werden: Transport durch Kompartimente, Mitochondrien oder Faltung und Abbau von Proteinen zum Beispiel. Immer wieder waren dabei Einzelfall-Entscheidungen zu treffen, bei denen ein genauer Blick auf die Publikationshistorie notwendig war, um den jeweiligen Forscher einzuordnen.

Abspalten und zurückfinden

Die Abgrenzungsprobleme spiegeln sich auch in den Listen der zellbiologischen Paper wider. So widmet sich der meistzitierte Artikel unter anderem der Entwicklung von Makrophagen aus Stammzellen des blutbildenden Systems. Ein immunologisches Thema also, hier aber mit einem starken Fokus auf Prozesse der Zelldifferenzierung. Arbeiten hingegen, die der Immunabwehr auf den Grund gehen, haben wir hier nicht berücksichtigt – diese Themen fallen klar in den Zuständigkeitsbereich der Immunologen. Darüber hinaus stehen Artikel zur Nervenentwicklung und Neurogenese sowie zur Kommunikation zwischen Zellen in der Liste – zum Beispiel Signale zwischen Endothel und glatter Muskulatur über mikroRNAs (5.).

Wahrscheinlich wird die Zellbiologie als elementare lebenswissenschaftliche Disziplin immer wieder neue Fachrichtungen hervorbringen – so wie sich die Immunologie sukzessive von ihr abgespalten hat. Und umgekehrt werden Wissenschaftler aus anderen Ecken immer wieder zur Zellbiologie zurückfinden – zum Beispiel, wenn sie sich plötzlich für induzierte pluripotente Stammzellen interessieren. Somit können wir wohl davon ausgehen, dass in vier Jahren wieder neue Namen in der „Köpfe“-Liste zur Zellbiologie stehen werden, die heute noch nicht als Zellforscher gelten.


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Letzte Änderungen: 01.03.2018