Editorial

Klassenkämpfe

Publikationsanalyse 2009-2013: Rheumaforschung
von Ralf Neumann, Laborjournal 9/2015


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Das Bild „The Claw“ malte die irische Rheuma-Patientin Jo Killalee im Rahmen des Projekts ARThritis. Vorlage war ein Röntgenbild ihrer Hände.

Die Rheumaforscher sind teilweise immer noch mit dem Durchklassifizieren ihrer Krankheitsbilder beschäftigt. Einige scheffelten damit gar den Löwenanteil ihrer Zitierungen.

„Rheuma“ ist als medizinischer Begriff über 2.300 Jahre alt. Der griechische Arzt Hippokrates führte ihn im vierten Jahrhundert vor Christus ein, als er einen Patienten beschrieb, der an Gicht litt. Hippokrates formulierte damals gerade seine „Viersäftelehre“ zur Erklärung allgemeiner Körpervorgänge samt ihrer krankhaften Störungen, die fortan Medizin und Naturwissenschaft in weiterentwickelter Form bis ins 19. Jahrhundert dominieren sollte. Demnach entspringen die vier Säfte jeweils einem anderen Organ und überwiegen im Wechsel je nach Jahreszeit – „Schleim“ im Winter, „Blut“ im Frühjahr, „Gelbe Galle“ im Sommer und „Schwarze Galle“ im Herbst.

Falsche Richtung

Hippokrates nahm an, dass bei seinem Gicht-Patienten die Körpersäfte vermehrt in die falsche Richtung flössen – nämlich vom Gehirn in die Gelenke, wo sie dann die typischen Schmerzen verursachen. Aus diesem Grund wählte er für das Krankheitsbild den griechischen Begriff „Rheuma“ – „das Fließende“.

Seitdem verwendeten die alten Mediziner austauschbar die Begriffe „Rheuma“ und „Catarrhos“ („fließt nach unten“), um eine Vielzahl von Krankheiten zu beschreiben – Gelenkprobleme eingeschlossen. Erst im 16. Jahrhundert unterschied der französische Arzt Ballonius den „Rheumatismus“ als Gelenk-schädigende Körpersäfte vom Katarrh, bei dem fehlgeleitete Säfte Entzündungen der Schleimhäute verursachen (Heuschnupfen, Schnupfen, Nebenhöhlenentzündung und dergleichen).

Verwirrender Kampf

Was danach folgte, war ein Jahrhunderte langer und oftmals verwirrender Kampf, um all die schmerzhaften Störungen von Muskeln, Knochen und Gelenken samt ihrer umgebenden Gewebe adäquat in all die Teilfelder einzuteilen, welche in ihrer Gesamtheit die Disziplin Rheumatologie bilden, wie wir sie heute kennen. Beispiele sind etwa: Gicht und Pseudogicht, rheumatoide Arthritis, rheumatisches Fieber, Osteoarthritis, Morbus Bechterew, Fibromyalgie, rheumatoide Vaskulitis, Sklerodermie,...

Die „Rheumatoide Arthritis“ beispielsweise blieb umstritten, bis die American Rheumatism Association in den frühen 1940er Jahren den Namen schließlich annahm. In ähnlicher Weise dauerte es bis 1963, dass der Verband offiziell dem Begriff „Spondylitis ankylosans“ (Morbus Bechterew) zustimmte. Die „Fibromyalgie“ musste sogar bis 1990 warten.

Terminologie-Chaos

Eine der Ursachen für dieses langlebige und noch nicht vollends überwundene Terminologie-Chaos liegt sicher darin, dass sich in der Zwischenzeit nahezu 400 unterschiedliche Typen von Erkrankungen und Syndromen unter dem Dach der „Rheumatologie“ tummeln. Und dies wiederum bildet wohl auch die Wurzel des Problems, das der Harvard Special Health Report erst kürzlich mit dem Satz zusammenfasste: „Für eine Krankheit, die nahezu einen von fünf Erwachsenen in dessen Leben befällt, ist sie bemerkenswert schlecht verstanden.“

Die Botschaft scheint jedoch längst angekommen. Denn in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten zählte die Rheumatologie sicherlich zu denjenigen medizinischen Disziplinen, in denen die Forschung vergleichsweise überproportional „zulegte“. Die offensichtlichsten „Symptome“ für diesen Eindruck: mehr Fördermittel und mehr ausgewiesene Forschungszentren für die Rheumatologie, mehr Rheumatologie-Forscher – und als Folge daraus: mehr Publikationen und höhere Zitierraten.

Der vorliegende Publikationsvergleich bestätigt diesen offenbar noch anhaltenden Trend. In unserem vorletzten, analogen Vergleich der Jahre 2001-2004 publizierten die 50 meistzitierten Rheumaforscher in der Summe noch 404 Artikel im Jahresschnitt, die bis zum damaligen Analyse-Stichtag alle zusammen im Jahresschnitt 8.586mal zitiert wurden. Im letzten Publikationsvergleich 2005-2008 stiegen diese Werte bereits auf 11.591 Zitierungen bei 439 Artikeln, während die entsprechenden Werte der vorliegenden Analyse gar auf 15.798 Zitierungen bei 575 Artikeln klettern. Unwahrscheinlich, dass dies nur eine allgemeine Zunahme in sämtlichen medizinischen Forschungsdisziplinen widerspiegelt.

Warum dasselbe doppelt?

Aber auch etwas anderes reflektiert die vorliegende Publikationsanalyse sehr schön: Nämlich dass die Rheumaforschung noch lange nicht damit am Ende scheint, das Potpourri der einzelnen rheumatischen Erkrankungen und Syndrome klar definieren und voneinander abgrenzen zu müssen. Nicht weniger als vier der zehn bis heute meistzitierten Veröffentlichungen aus dem Analysezeitraum 2009 bis 2013 mit deutschsprachiger Beteiligung sind solche Klassifizierungs- und Namensgebungsartikel. Konkret beschreiben die Artikel auf den Plätzen 1 und 3 Klassifizierungskriterien für Rheumatoide Arthritis, das zweitplatzierte Paper dreht sich um Spondyloarthritis; und der Artikel auf Platz 6 schlägt eine revidierte Nomenklatur für Vaskulitiden vor. Wobei man einschränken muss, dass die beiden Klassifizierungsartikel zur Rheumatoiden Arthritis auf den Plätzen 1 und 3 in Wirklichkeit ein und derselbe sind. Warum indes der tupfengleiche Artikel unbedingt parallel sowohl im europäischen Rheumatologen-Verbandsorgan Annals of the Rheumatic Diseases als auch in dessen US-Gegenstück Arthritis and Rheumatism erscheinen musste, erschließt sich uns nicht wirklich. Jedenfalls haben die beteiligten Autoren damit jetzt zwei statt einem vielzitierten Paper in ihren Publikationslisten.

Diese Klassifizierungsartikel bergen aber noch ein weiteres Problem für die vorliegende Publikationsanalyse. Wie angegeben, werten wir für den Zitationsvergleich nur diejenigen Artikel, die die Datenbank Web of Science als „Article“ einstuft. Damit hoffen wir, möglichst ausschließen zu können, dass einzelne „Köpfe“ lediglich aufgrund vielzitierter Reviews „weit oben landen“. In welche Kategorie man jetzt solche Klassifizierungsartikel einteilen sollte – darüber lässt sich sicher streiten. Web of Science hat die hier erwähnten Artikel jedenfalls als „Articles“ durchgehen lassen – weswegen wir sie getreu unserer „Methode“ mitzählen mussten. Die unausweichliche Folge war, dass einige Forscher ihre Platzierung unter den meistzitierten Köpfen weitgehend ihrer Ko-Autorenschaft auf diesen vielzitierten Klassifizierungs-Papern verdanken. Beispiele sind etwa Daniel Aletaha (6.) und Julia Funovits (12.) aus Wien, die beide auf diese Weise zum Löwenanteil ihrer Zitierungen kamen. Aber auch die beiden Erstplatzierten, der Wiener Josef Smolen und der Berliner Gerd Burmester, sammelten durch solche Ko-Autorenschaften einen erheblichen Batzen an Zitierungen ein.

Ob dies fair ist im Vergleich mit denjenigen, die ihre Zitierzahlen und Platzierungen ausschließlich mit Originalarbeiten erreichten, kann jeder selbst beurteilen. Es zeigt aber wieder einmal, dass die reinen Zitierzahlen nur dann tatsächliche Aussagekraft besitzen, wenn man auch im Einzelfall weiß, wie sie zustande kamen.

Was den Publikationsvergleich Rheumaforschung im Gegensatz zu vielen anderen Disziplinen deutlich angenehmer machte, ist die Homogenität seiner Vertreter. Nur bis auf wenige Ausnahmen arbeiten sie allesamt an ausgewiesenen „Rheuma-Instituten“ oder in der Klinischen Immunologie. Beispiele für die „Ausnahmen“ sind etwa die Salzburger Anatomen Felix Eckstein (15.) und Wolfgang Wirth (36.) oder der Erlanger Radiologe Frank Roemer (19.), der allerdings in der Zwischenzeit mehrheitlich in Boston arbeitet. Dazu kommen noch die beiden Kölner Dermatologen Thomas Krieg (30.) und Nicolas Hunzelmann (31.), die letztendlich genügend Paper über die entzündlich-rheumatische Sklerodermie in explizit rheumatologischen Fachblättern veröffentlichten, um sie in diesen Vergleich mit aufzunehmen.

„Hotspot“ Berlin

Wo aber sind nun nach der vorliegenden Liste die geographischen „Hotspots“ der deutschsprachigen Rheumaforschung? Klare Nummer eins ist Berlin mit 13 Platzierungen unter den 50 meistzitierten Rheumaforschern – allen voran Gerd Burmester (2.) und Joachim Sieper (4.). Dahinter kommt Erlangen-Nürnberg mit sieben Köpfen in den Top 50 – angeführt von Georg Schett (3.) und Jörg Distler (11.). Und den dritten Platz teilen sich mit jeweils vier Platzierungen Wien und Zürich – am weitesten „oben“ landeten der bereits erwähnte Josef Smolen auf dem ersten Platz sowie der Zürcher Steffen Gay auf Platz 9.

Die übrigen Namen und Platzierungen sind leicht den Tabellen auf der folgenden Doppelseite zu entnehmen. Bleibt zum Schluss nur noch – wie zuletzt immer – die Frauenquote: Ganze zehn Rheumaforscherinnen schafften es unter die 50 Meistzitierten – am weitesten vorne: die Ex-Berliner Kollagenosen-Spezialistin Gabriela Riemekasten (10.), die erst in diesem Jahr nach Lübeck umzog.

Eine sehr gute Quote für eine Disziplin mit hohem klinischen Anteil.


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Letzte Änderungen: 02.09.2015