Editorial

Die Fliegenfremdgängerin

Ralf Neumann


Rätsel

(29.05.2020) Da führt eine Doktorandin mit einer Studie zwei Felder zu einer neuen Disziplin zusammen – doch komischerweise interessiert sich zunächst kaum jemand dafür.

Wer mag nicht diese Geschichten aus der Wissenschaft, in denen die vollumfängliche Bedeutung bestimmter Erkenntnisse erstmal ziemlich verkannt wurde? Viele bekannte Beispiele gibt es dafür: Barbara McClintocks „springende Gene“, Günter Blobels Signalhypothese, Stanley Prusiners Prionen und und und.

Auch unsere Gesuchte hat solch eine Geschichte zu bieten, allerdings mit einigen Unterschieden zu den drei oben Genannten. Beispielsweise bekam sie später nicht doch noch einen Nobelpreis für ihre Entdeckung. Und sie machte die entsprechenden Studien großteils während ihrer Doktorarbeit – was schlichtweg bedeutete, dass sie in dieser Zeit einen „Chef“ über sich hatte. Dieser, ebenfalls ein späterer Nobelpreisträger, initiierte ihr Projekt anfangs zwar entscheidend mit, verlor mittendrin aber doch das Interesse an der Richtung, in die es sich entwickelte – sodass auch er die wahre Bedeutung der Befunde seiner Studentin über lange Zeit nicht wirklich erkennen wollte.

Geboren wurde unsere schlaue Doktorandin kurz nach dem ersten Weltkrieg in einer kleinen englischen Stadt ziemlich genau in der Mitte zwischen London und Manchester. Sie war gerade mitten in ihrem Zoologie-Studium in Oxford, als sie es wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs unterbrechen musste. Während des gesamten Krieges arbeitete sie stattdessen für die BBC und konnte ihr Studium erst Ende der 1940er wieder aufnehmen.

Dort arbeitete sie in ihren Undergraduate Studies zunächst an einem Projekt über Triebkonflikte bei tierischem Verhalten. Während dieser Zeit kam ihr künftiger Doktorvater quer über die südliche Nordsee nach Oxford und übernahm die Leitung ihres Instituts. 1950 begann sie bei ihm ihre Doktorarbeit.

Zugleich bekamen ihre Studien einen völlig neuen Fokus. Einige Zeit vor ihrem „Dienstantritt“ hatte ihr Doktorvater nämlich ein paar Monate bei einem der ganz Großen der Evolutionsbiologie in den USA verbracht. Und dort war zwischen den beiden unter anderem die Idee gereift, sich mal diese kleine Taufliege etwas genauer anzuschauen, mit der die Genetiker gerade so große Erkenntniserfolge erzielt hatten. Dies allerdings mit verschiedenen Hintergedanken: Der Gastgeber erwartete davon neue Einsichten in die Mechanismen der Speziation – der Gast dagegen erhoffte, mit gewissen Fliegenstudien frischen Wind in die Verhaltensbiologie blasen zu können. Eine Disziplin übrigens, die er selbst bis dato vor allem mit Studien an schuppenlosen Fischen vorangetrieben hatte.

Unsere Doktorandin sollten die Fliegen allerdings vornehmlich in die Richtung treiben, aus der sie damals aus einem kleinen, aber feinen „Fliegenzimmer“ zu ihr gekommen waren: die Genetik. Über die genetische Basis von Verhalten wusste man damals nämlich nur wenig – und das Wenige kam ausschließlich aus dem Vergleich verschiedener Stämme oder Züchtungslinien. Mit den Studien unserer Gesuchten kam jetzt erstmals eine definierte genetische Mutante mit ins Spiel. Sie nutzte die Expertise ihrer Gruppe, um die streng zementierten Abläufe eines Schlüsselverhaltens der Wildtyp-Fliegen quantitativ aufzuzeichnen und mit den entsprechenden Verhaltensabweichungen einer bestimmten Mutantenlinie zu vergleichen. Ihre Resultate ließen am Ende keinen Zweifel zu: Der Defekt in dem einzelnen Gen der Mutante ließ die Fliegen nicht nur äußerlich in einer anderen Farbe schimmern, sondern dämpfte insbesondere bei den Fliegenmännern die Ausprägung des untersuchten Verhaltensrituals entscheidend ab.

Ein Jahr nach ihrer Dissertation veröffentlichte sie das entsprechende Paper als alleinige Autorin in Evolution. Schon der Titel verriet die übergeordnete Pionier-Erkenntnis der gesamten Studie – nämlich, dass die Aktivität eines einzelnen Gens die Ausprägung eines gesamten Verhaltensmusters steuern kann. Womit unsere Gesuchte immerhin den Proof-of-Principle für die neue Disziplin der Verhaltensgenetik erbrachte.

Die Größen der Verhaltensforschung und angrenzender Gebiete hatten sich jedoch zu dieser Zeit – inklusive ihres Chefs – in eine ganz andere, eher theoretische Rahmendiskussion verstrickt. Mit der Folge, dass der Single-Gene-Approach unserer Gesuchten in der „Szene“ zunächst auf geringes Interesse stieß. So wurde ihre Pionierstudie zwar bis heute über 350-mal zitiert, darunter jedoch beispielsweise kein einziges Mal von einer anderen Arbeit ihres damaligen Chefs.

Vielleicht zog sie auch deshalb einige Jahre später mit ihrem zehn Jahre jüngeren Ehemann, einem Ex-Studenten von ihr, weiter nach Edinburgh und betrieb dort fortan nur noch humanethologische Studien. Sie starb im Alter von 62 Jahren in Südengland an Krebs.

Wie heißt sie?




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Die „Fliegenfremdgängerin“ ist Margaret Bastock, die erkannte, dass ein Defekt im yellow-Gen das Paarungsverhalten von Drosophila-Männern dämpft – und damit prinzipiell die Neurogenetik begründete.