Editorial

Der Hunde-Aufschneider

Ralf Neumann


Rätsel

(03.09.2018) Für seine Erkenntnis hätte unser Gesuchter eigentlich den Nobelpreis verdient gehabt. Wirklich zog sie jedoch einen Prozess und eine hart umkämpfte Hunde-Statue nach sich.

Bis heute haben 211 Einzelpersonen den Medizin-Nobelpreis erhalten, 174 Preisträger waren es in der Chemie. Sicherlich hätten den Preis in der gleichen Zeit mindestens nochmal so viele Forscher ebenso verdient gehabt wie diese Glücklichen, ihn aber nie bekommen.

Kaum einer wird heute Zweifel daran haben, dass der hier gesuchte Physiologe zu den Letzteren gehört. Immerhin begründete der englische Industriellen-Sohn zusammen mit seinem jüngeren Schwager, einem Mediziner, eine ganze biomedizinische Disziplin. Der Schlüssel dazu war eine einzige Versuchsreihe, die die beiden ein Jahr, nachdem die ersten Nobelpreise vergeben wurden, in einem kleinen Londoner Labor durchführten.

Für ihre Versuche führten die beiden Vivisektionen an Hunden durch. Und das sollte vor allem unserem Gesuchten bald ganz gehörige Probleme bereiten...

Doch zunächst zu den entscheidenden Experimenten. Was die beiden Schwäger insbesondere interessierte, war das Verdauungssystem. Und um zu verstehen, wie dessen einzelne Komponenten koordiniert zusammenarbeiten, banden sie gewisse Schleifen des Hundedarms ab und sorgten dafür, dass diese nur noch über das Blut- und/oder das Nervensystem mit dem Rest des Verdauungstrakts verbunden waren. Dann imitierten sie in der Schleife bestimmte Verdauungsvorgänge und schauten, ob dadurch in einer anderen Komponente des Verdauungstrakts „etwas geschah“. Und siehe da, ganz woanders „geschah“ tatsächlich etwas.

Nachdem unser Duo weitere Details dieses Vorgangs geklärt hatte, war klar: Die beiden hatten hier nicht einfach nur einen speziellen Mechanismus der Verdauung entdeckt, sondern vielmehr ein allgemeines Grundprinzip der Aktivierung aller möglicher physiologischer Vorgänge. Entsprechend führte der jüngere Schwager auch erstmals den Begriff für die Schlüsselelemente dieses Prinzips ein, um die sich nachfolgend – wie bereits erwähnt – eine komplette medizinische Disziplin entwickeln sollte.

Allerdings gab es auch damals schon eine sehr aktive Tierrechtler-Szene. Und die sorgte dafür, dass die enorme Erkenntnis aus den Londoner Hundeversuchen zunächst komplett in den Hintergrund geriet. Vielmehr fand sich unser Gesuchter nur ein Jahr später vor Gericht wieder, nachdem er selbst eine Verleumdungsklage gegen eine schwedische Antivivisektionisten-Gruppe angestrengt hatte. Diese hatte zuvor zwei Mitglieder in dessen Praxis-Seminare eingeschleust – und ihm nachfolgend vorgeworfen, er habe dabei den gleichen braunen Terrier dreimal bei vollem Bewusstsein seziert, bevor ein Student ihn schließlich getötet habe.

Das Gericht entschied schließlich, dass die Vorwürfe nicht haltbar waren, sodass unser Gesuchter die Verleumdungsklage gewann. Allerdings hatte die „Affäre“ um den braunen Hund in der Öffentlichkeit bereits eine Eigendynamik entwickelt, die keiner vorausahnen konnte. So schrieben die beiden Aktivistinnen ein Buch über die „Affäre“, das in mehreren Auflagen ungeahnte Resonanz erfuhr. Zudem wurde als Reaktion auf den verlorenen Prozess im September 1906 eine bronzene Hundeskulptur in einem Londoner Arbeiterviertel aufgestellt, in deren Granitsockel Tränken für Mensch und Tiere eingebaut waren.

Doch damit noch lange nicht Schluss. Die „Affäre“ hatte die Bevölkerung samt Studenten und Wissenschaftlern derart gespalten, dass sich wiederholt gewalttätige Auseinandersetzungen entwickelten. So marschierten mehrere Male einige hundert Studenten mit Brechstangen los, um die Statue zu zerstören. Jedes Mal wurden sie von der Polizei, die die Statue schließlich rund um die Uhr bewachte, davon abgehalten.

Endgültig zum Politikum wurde die Skulptur, als der Stadtrat eine Petition mit 20.000 Unterzeichnern gegen die Statue vorbrachte – wogegen die Antivivisektionisten und deren Anhänger natürlich ihrerseits umgehend demonstrierten. Dennoch entfernten daraufhin in einer Märznacht des Jahres 1910 vier Stadtratsabgeordnete die Statue insgeheim und unter dem Schutz von 120 Polizisten. (1985 wurde sie in anderer Form und an anderer Stelle in London wieder aufgestellt.)

Ob all diese Vorgänge jedoch irgendeine Rolle dabei spielten, dass unser Gesuchter zusammen mit seinem jüngeren Schwager letztlich keinen Nobelpreis erhielt, bleibt Spekulation. Immerhin erhielt er trotz alledem etwas später die höchste Auszeichnung der Royal Society und wurde bald darauf zum Ritter geschlagen.

Wie heißt er?




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Der „Hunde-Aufschneider“ war der englische Physiologe William Bayliss (1860-1920). Mit seinem Schwager Ernest Starling entdeckte er 1902 das Verdauungshormon Secretin. Zwar war damals Adrenalin schon bekannt, Starling war es jedoch, der den Begriff „Hormon“ für die gesamte Stoffklasse vorschlug.