Editorial

Die spätberufene Chromosomenkennerin

Winfried Köppelle


Rätsel

(07.10.2016) Gleichzeitig mit dem Spiritus rector der amerikanischen Zellbiologie entdeckte sie, dass die Geschlechtsbestimmung an Chromosomen gebunden ist.

Die Tochter eines einfachen Handwerkers brilliert als akademische Quereinsteigerin und legt eine bemerkenswerte Karriere hin. So würde, ein wenig Glück und professionelles Networking vorausgesetzt, diese Geschichte wohl heutzutage ablaufen.

Im Fall der hier gesuchten Dame blieb die öffentliche Anerkennung jedoch aus; heute, gut hundert Jahre später, ist ihr Name weitgehend vergessen. Es lag nicht an der damals patriarchalisch geprägten Gesellschaft – im Gegenteil, ihre männlichen Kollegen unterstützten und förderten sie sogar nach Kräften. Es lag schlicht daran, dass die Universitätslaufbahn der Gesuchten nur von kurzer Dauer war: Wenige Jahre nach ihrer Promotion erkrankte sie schwer und starb, ehe sie die eigens für sie geschaffene Forschungsprofessur antreten und sich einen Namen machen konnte. Wer war diese junge Frau, die dennoch in die Wissenschaftsgeschichte einging als eine der ersten maßgeblichen Biologinnen überhaupt?

Geboren wurde die Gesuchte im idyllischen „Green Mountain State“ Neuenglands, bekannt für Ahornsirup, atemberaubende Berglandschaften und laut Carl Zuckmayr für seine „humorvoll-eigenbrötlerischen“ Bewohner. Das Mädchen profitierte davon, dass ihr Vater, ein wohlhabender Zimmermann, sich eine ihrem Talent angemessene Ausbildung leisten konnte; sie wurde Lehrerin für Biologie, Mathematik, Latein und Englisch, und war nebenher als Bibliothekarin tätig.

Später Quereinstieg einer Pädagogin

Mit 35 kehrte sie an die Hochschule zurück, erwarb dort einen Abschluss in Biologie, perfektionierte ihre mikroskopischen Kenntnisse und spezialisierte sich zunehmend auf die Zellbiologie, die es damals strenggenommen noch gar nicht als eigenständige Disziplin gab. Ein Europaaufenthalt brachte sie zunächst nach Würzburg zu Theodor Boveri, der 1882 zusammen mit Eduard Strasburger gezeigt hatte, dass die Zahl der Chromosomen für unterschiedliche Arten typisch und konstant ist; danach setzte sie ihre Forschungen an der Zoologischen Station Neapel und am Bryn Mawr College in Pennsylvania fort.

Was sind die Ursachen der Vererbung? Wo sitzt die Information, die das charakteristische Wesen und Aussehen eines Lebewesens bewirkt? Im Chromatin, in den Chromosomen? Walther Flemming, der Begründer der Zytogenetik, der beides 1879 entdeckt hatte, hatte noch keine Ahnung, dass es sich dabei in der Tat um die Erbsubstanz handelt. Erst nach der Wiederentdeckung der Arbeiten Gregor Mendels ging es Schlag auf Schlag: Walter Sutton erkannte 1903 die Chromosomen als Träger der Erbinformation, und Thomas Hunt Morgan, der bedeutendste Genetiker seiner Zeit, entdeckte, dass die Gene nacheinander auf den Chromosomen liegen – was er in Form von Genkarten visualisierte.

Was hat unsere Gesuchte mit alledem zu tun? Nun, sie war es gewesen, die die so ertragreiche Forschung an Fruchtfliegen in Morgans Labor überhaupt erst initiiert hatte. Und sie war es auch, die 1905 als Postdok erstmals erkannte, was das Geschlecht bestimmt: nämlich die An- beziehungsweise Abwesenheit des Y-Chromosoms.

Beinahe jedoch wäre dieser so wichtige Beitrag zur Genetik einem anderen Forscher zugeschrieben worden, nämlich einem engen Freund und Konkurrenten Morgans, der heute als amerikanischer Begründer der Zellbiologie gilt. Eben dieser Wissenschaftler war einen Tick schneller gewesen als unsere Gesuchte und hatte bereits publiziert, was jene unabhängig ebenfalls gefunden hatte. Ganz ein Ehrenmann alter Schule, sorgte er mit seiner Autorität jedoch dafür, dass beide als ebenbürtige Entdecker der Geschlechtschromosomen anerkannt wurden. Wie heißt die Dame, deren Karriere nur neun Jahre dauern sollte?




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Die gesuchte, spätberufene Chromosomenkennerin ist die amerikanische Genetikerin Nettie Maria Stevens (1861-1912). Sie beschrieb gleichzeitig mit Edmund B. Wilson erstmals die chromosomengebundene Vererbung des Geschlechts. Stevens arbeitete 14 Jahre lang als Lehrerin und wurde erst auf dem zweiten Bildungsweg Wissenschaftlerin. Im Alter von 42 erlangte sie ihren Doktortitel und arbeitete fortan in den Arbeitsgruppen der weltweit führenden Zellforscher Wilson, Theodor Boveri (Würzburg) und Thomas Hunt Morgan. Stevens führte die Fruchtfliege in Morgans Labor ein und machte sie dort zum bevorzugten Forschungsobjekt; sie entdeckte auch als erste, dass weibliche Drosophila-Individuen zwei große Geschlechtschromosomen besitzen. Als man ihr mit 50 die ersehnte Forschungsprofessur anbot, litt sie bereits unheilbar an Krebs.