Editorial

Der verhinderte Konzertpianist

Winfried Köppelle


Rätsel

(29.09.2014) Nicht sein gerühmter Nobelpreiskollege, sondern er ist die Schlüsselfigur auf dem Weg zum bedeutendsten Medikament der Menschheitsgeschichte.

Wir erhielten ein braunes Pulver, das in Verdünnungen von 1 zu 106 erhebliche (...) Aktivität zeigte, also etwa zwanzig Mal aktiver war als die aktivsten Sulfonamide.

Wir schreiben das Jahr 1939, befinden uns in einem Labor der ältesten britischen Universität, und was der 33-jährige Exiljude mit dem buschigen Schnauzbart da so lakonisch als „Pulver“ bezeichnet, ist die wichtigste Errungenschaft der Medizingeschichte. Entdeckt hat er sie zwar nicht, dafür aber nutzbar gemacht. Millionen verdanken ihm ihr Leben, und dennoch steht sein Name bis heute im Schatten eines schottischen Kollegen, der mit seinen Experimenten nie etwas Verwertbares zustande brachte.

Gehen wir weitere drei Jahrzehnte zurück ins Berlin der Kaiserzeit, wo in jenen Tagen der zweimillionste Einwohner geboren wird. Wenig wahrscheinlich, dass es ausgerechnet die gesuchte Person ist – aber wer weiß? – das Geburtsjahr würde passen. Der Sohn eines russisch-jüdischen Immigranten besucht das Luisengymnasium, studiert, promoviert, und forscht eine Zeitlang an der Charité. Im April 1933 flieht er vor den Nazis nach Großbritannien. Eine weise Entscheidung: Seine Mutter und seine Schwester, die zurückbleiben, werden zuletzt im Lager Theresienstadt lebend gesehen.

Unser Jüngling ahnt davon nichts, als er mit wenig mehr als seinen Kleidern und zehn Pfund in der Tasche in England ankommt. Doch einflussreiche Mentoren machen sich für ihn stark: Der exzentrische Populationsgenetiker J.B.S. Haldane vermittelt ihn an den Begründer der Vitaminforschung, Gowland Hopkins, und dieser sorgt dafür, dass unser Gesuchter 1935 in Oxford landet. Dort forscht er an Schlangengift, Lysozym und Krebsstoffwechsel und landet bei einer Literaturrecherche bei den vergessenen Veröffentlichungen des erwähnten Schotten.

Die vergessenen Publikationen

Was darin geschrieben steht, elektrisiert unseren Mann: Eine geheimnisvolle – teils tödliche, teils harmlose – Substanz, die das Wachstum hemmt und die wegen ihrer chemischen Instabilität noch niemand näher charakterisiert hat. Ein Protein? Mit einem Medizinerkollegen macht er sich ans Werk, das Molekül zu knacken. Voluminöse Flüssigkulturen werden angesetzt, ein Filtrat gewonnen, dieses mit Ether extrahiert, und so weiter. Nach nur wenigen Wochen und einer abschließenden Gefriertrocknung erhält er das eingangs beschriebene, hygros­kopische braune Pulver: Unser Mann hat die Substanz isoliert, die keineswegs ein Protein, sondern eine niedermolekulare Doppelring-Verbindung mit einer molaren Masse von kaum mehr als 300 g/mol ist.

Sofort bereitet sein Kompagnon einen Tierversuch vor. Am 25. Mai 1940, dem „entscheidenden Tag, an dem alles möglich wurde“, injiziert er acht Mäusen eine tödliche Lösung mit Streptococcus haemolyticus-Bakterien. Nach 16 Stunden sind vier davon tot. Die anderen vier sind putzmunter: Sie bekamen zuvor das braune Pulver.

Es ist Krieg, Paris ist besetzt, und das Hitler-Regime erwägt die Invasion Englands. Die beiden Wissenschaftler beschmieren das Futter ihrer Anzüge mit dem, was in ihren Flüssigkulturen schwimmt. Sollten die Deutschen einmarschieren, wollen sie sich in die USA durchschlagen, damit ihre kriegswichtigen Experimente dort fortgesetzt werden können. Dies passiert dann auch, weil das Forschen auf der umkämpften britischen Insel zu mühsam wird.

Die erste große Bewährungsprobe besteht das neue Medikament während der alliierten Landung in der Normandie. Es rettet tausenden Soldaten das Leben, danach auch Millionen von Zivilisten, und unsere beiden Forscher erhalten dafür recht bald den wohlverdienten Preis. Wie heißt der Mann, der als Postdok in öffentlichen Konzerten als Pianist auftrat?




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Der gesuchte, verhinderte Konzertpianist ist der deutsch-britische Bakteriologe Ernst Boris Chain (1906-1979). Dem vor der Nazi-Diktatur nach England geflüchteten Charité-Postdok gelang es ab 1939 erstmals, das von Alexander Fleming zehn Jahre früher entdeckte Penicillin G aus dem Kulturmedium aufzureinigen und zu konservieren – und die instabile Verbindung damit als Medikament nutzbar zu machen. Die therapeutische Wirksamkeit des β-Lactam-Antibiotikums demonstrierte sein Chef Howard Florey anschließend an Mäusen. Sechs Jahre später wurde den beiden zusammen mit Fleming „für die Entdeckung des Penicillins und seiner Heilwirkung bei verschiedenen Infektionskrankheiten“ der Nobelpreis zugesprochen: Ihre wissenschaftliche Großtat hatte schon während des Kriegs unzähligen Menschen das Leben gerettet – und tut dies bis heute.