Der Kopfarbeiter

Ralf Neumann


Editorial

Rätsel

(12.04.2022) „Benötigt man für die Antwort eine Methode, dann soll man sie entwickeln“, sagte unser Gesuchter einmal. Und hatte damit gut reden.

296.405 – wegen dieser Zahl bemerkte einmal ein Reporter zu unserem Gesuchten, dass er damit ja wohl ein bedeutenderer Wissenschaftler sei als Einstein. Was dieser natürlich vehement verneinte. Derweil steigt die Zahl immer weiter. Allerdings wäre es fast gar nicht zu ihr gekommen ...

Die Basis für die Zahl legte unser Gesuchter als Postdoktorand in einem sehr berühmten Labor in England. Sein Aufenthalt dort sollte sich für ihn jedoch nicht nur wissenschaftlich als Glücksfall erweisen. Denn nur ihm verdankte er es, dass er sich von einem anstehenden Militärdienst in seinem Heimatland freistellen lassen konnte. Hätte er diesen antreten müssen, wäre er laut eigener Aussage ziemlich sicher bei einer Übung in den Alpen dabei gewesen, bei der seine 19 Kameraden nachts in ihrer Unterkunft von einer Lawine überrascht wurden. Allesamt waren sie unter den dreißig Todesopfern der Katastrophe.

Von diesem fatalen Schicksal verschont veröffentlichte unser Gesuchter nur ein halbes Jahr später ein Paper als alleiniger Autor. Und mit diesem sollte er eine völlig andere und gänzlich harmlose Lawine starten, die heute immer noch rollt.

Editorial

Kaum einer war jedoch mehr davon überrascht als er selbst. Nie im Leben hatte er gedacht, dass in der wissenschaftlichen Frage, die er in dem Paper anging, ein derartiges Potenzial schlummern könnte. Schließlich klärte er dabei „nur“ die strukturelle Zusammensetzung des Kopfes eines bestimmten Bakteriophagen.

Dieser Frage hatte er sich bereits als Doktorand in der Gruppe eines Molekularbiologie-Pioniers seines Heimatlandes gewidmet. Dessen Labor befand sich damals in unmittelbarer Nähe eines Sees, dem eine große britische Rockband nur wenige Jahre später ihr wohl berühmtestes Stück widmen sollte. Als unser Gesuchter dort anfing, hatte man es anderswo bereits geschafft, konditional-letale Mutanten für nahezu alle Gene zu isolieren, die für wesentliche Funktionen des Phagen codierten. Lag die Mutation konkret in einem Gen für ein Strukturprotein, wurde dessen Expression nach der Infektion der Bakterienzelle unter den passenden Bedingungen blockiert. Die Folge war, dass sich in den Zellen je nach betroffenem Gen verschiedene morphogenetische Zwischenprodukte der Virusmontage anhäuften. Mithilfe dieses Systems konnte unser Doktorand – zusammen mit anderen in der Gruppe – bis zum Ende seiner Dissertation sämtliche „unreifen“ Strukturen mit Defekten im Kopf-Zusammenbau charakterisieren.

Offenbar waren die beiden Erstautor-Paper, die für unseren Doktoranden dabei heraussprangen, gute Argumente für die ungewollt schicksalhafte Bewilligung eines Stipendiums der European Molecular Biology Organization (EMBO) an dem besagten englischen Edel-Institut. Nicht zuletzt deshalb ließ ihm wohl auch sein dortiger „Chef“, der ein Dutzend Jahre später den Nobelpreis erhalten sollte, gänzlich freie Hand, um das Phagenkopf-Projekt in seinem Labor weiter voranzutreiben.

Ziel des neuen Postdocs war jetzt, die genaue Proteinzusammensetzung des Phagenkopfes zu entschlüsseln. Dies erwies sich allerdings zunächst als harter Brocken. Zwar hatten zwei US-amerikanische Gruppen gut zehn Jahre zuvor die Möglichkeiten zur analytischen Auftrennung von Proteinen durch die Einführung einer neuen Matrixsubstanz deutlich verbessert. Die Phagenkopf-Proteine widersetzten sich jedoch hartnäckig diesem System, indem sie einfach als unauflöslicher Klumpen beisammenblieben.

Dieses Problem wiederum hatte kurz vorher ein New Yorker zumindest für Poliovirus-Proteine gelöst – und der verbrachte günstigerweise gerade ein Sabbatical in der Gruppe unseres Gesuchten. Allerdings funktionierte dessen „Polio-Verfahren“ mit den Phagenkopf-Proteinen zunächst auch nicht. Glücklicherweise jedoch hatte unser Gesuchter in seinen jungen Jahren eine technische Ausbildung durchlaufen, in der ihm auch einiges Wissen über Elektrochemie vermittelt wurde. Und das kam ihm jetzt entscheidend zugute. Er überlegte sich, mit welcher Art Puffersystem er die Moleküle optimal für das anschließende Trennverfahren vorbereiten könnte – und nach einigem Herumprobieren hatte er es geschafft: Mit der verbesserten Methode konnte er am Ende die strukturellen Elemente des Phagenkopfes nicht nur beschreiben, sondern auch zu einem gehörigen Teil die Orchestrierung seines Zusammenbaus skizzieren.

In nachfolgenden Gesprächen betonte unser „Kopfarbeiter“ immer wieder, dass er vor allem stolz sei, diese wissenschaftliche Frage gelöst zu haben. So steht denn auch der Teil, mit dem er die erwähnte sprichwörtliche Lawine auslöste, lediglich in der kleingedruckten Legende zur Abbildung 1 seiner Publikation. Im Haupttext schreibt er zwar, dass er auf diesen „Seitenaspekt“ demnächst detailliert in einem weiteren Artikel eingehen würde. Dies ist bis heute jedoch nicht passiert. Hätte er es tatsächlich getan, wäre die eingangs erwähnte Zahl sicherlich ganz anders ausgefallen.

Wie heißt er?





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Der „Kopfarbeiter“ ist Ulrich Laemmli, der die Proteinzusammensetzung eines Phagenkopfes analysieren wollte und dabei die SDS-Polyacrylamid-Gelelektrophorese (SDS-PAGE) entwickelte.