Der Wiederzurückspritzer

Ralf Neumann


Editorial

Rätsel

(06.10.2020) Wer etablierte Konzepte und Prinzipien widerlegt, muss bisweilen sehr lange auf positive Resonanz warten. Bei unserem Gesuchten war es damit allerdings nicht ganz so schlimm.

Die Geschichte der Biowissenschaften ist voll von Erzählungen, wie die Fachwelt gewisse Entdeckungen zunächst nicht wahrhaben wollte, die sich später als richtig und wichtig herausstellen sollten. Ein Paradebeispiel bietet seit jeher Barbara McClintock, die in den 1940ern begann, „springende Gene“ zu beschreiben, wegen des heftigen Gegenwinds der Fachkollegen jedoch ab 1953 nichts mehr dazu publizierte. Erst in den 1960ern und 1970ern wurden ihre damaligen Erkenntnisse wegen einer Vielzahl „passender Ergebnisse“ aus anderen Gruppen schließlich vollends akzeptiert und gewürdigt.

Ähnlich ausdauernder und starker Gegenwind blies Stanley Prusiner mit seinen Prionen sowie Günter Blobel mit seiner Signaltheorie des intrazellulären Proteintransports entgegen. Und Lynn Margulis berichtete beispielsweise, dass 15 Journale nacheinander ihren Pionieraufsatz „On the origin of mitosing cells“ zur Endosymbiontentheorie abgelehnt hatten, bevor er schließlich doch noch im Journal of Theoretical Biology erschien.

Auch von unserem Gesuchten wird berichtet, dass ihm zunächst einmal Unglauben entgegenstieß, als er mit Ergebnissen um die Ecke kam, die heftig an der Gültigkeit eines lange etablierten Prinzips kratzten, welches schließlich kein Geringerer als Paul Ehrlich mehr als vierzig Jahre zuvor aufgestellt hatte. Allerdings sollten sich in diesem Fall Dauer und Stärke des erzeugten Gegenwinds zumindest im Vergleich zu den oben erwähnten Beispielen eher in Grenzen halten.

Editorial

Dies wiederum war zu einem guten Teil auch dem Chef des damaligen medizinischen Doktoranden (MD) zu verdanken, der zuvor selbst bei einem Schüler von Paul Ehrlich über Gewebespezifität und Blutgruppen-Antigene gearbeitet hatte. 1933 war dieser vor den Nazis zuerst in die Schweiz und zwei Jahre später weiter in die USA geflohen, wo er es schließlich zum Professor einer Universität im US-Bundesstaat New York gebracht hatte. Als sein Doktorand ihm damals seine ersten Ergebnisse präsentiert hatte, soll er gesagt haben: „Das ist verrückt, das wird keiner glauben. Wie kann das sein?“ Und so ließ er ihn erstmal die Experimente mit äußerster Sorgfalt wiederholen, da er zunächst einen Fehler vermutete – etwa dass das Schlüsselprotein bei den kritischen Versuchen denaturiert vorlag.

Doch was hatte unser Gesuchter damals konkret gemacht? Nun, das ist eigentlich kaum zu beschreiben, ohne dass man ihn danach durch schnelles Googeln leicht identifizieren könnte – aber sei‘s drum, wir wollen hier ja auch was lernen:

Der Endzwanziger hatte ein prominentes Protein eines gewissen Organs aus mehreren Säugetieren sowie dem Menschen gereinigt und zusammen mit einem Immunverstärker in ein anderes Säugetier gespritzt. Wir wissen heute, was daraufhin passiert: Die Akzeptor-Tiere entwickelten eine Immunantwort und produzierten Antikörper gegen das Protein. Dasselbe geschah jedoch auch, wenn er das gereinigte Protein einem anderen Individuum derselben Spezies spritzte – womit wir bei dem Ergebnis wären, das sein Chef als „crazy“ bezeichnete.

Doch nachdem unser Gesuchter das Ergebnis erfolgreich wiederholt hatte, schlug dessen Chef weitere Experimente vor, mit denen es noch heftiger kommen sollte. An deren Ende stand folgendes Bild: Entnahm unser Doktorand das halbe Organ, reinigte daraus das Protein und spritzte es demselben Tier zurück in die Blutbahn, bildete es Antikörper dagegen, die letztlich auch das verbliebene „Halborgan“ angriffen.

Damit war Paul Ehrlichs Prinzip widerlegt. Allerdings relativierte unser Gesuchter dies später selbst, indem er darauf hinwies, dass Ehrlich nicht postuliert hatte, dass es dieses Phänomen nicht geben könne – sondern vielmehr, dass es schlimme Folgen haben würde, wenn es dieses gäbe. Und damit hatte Ehrlich wiederum recht, denn unser Gesuchter und sein Chef hatten mit ihren Erkenntnissen nicht weniger als einen völlig neuen und – wie sich in der Folgezeit herausstellen sollte – weit verbreiteten Krankheitsmechanismus offenbart.

Dennoch brauchten die beiden vier Jahre, bis ein Journal die ersten Ergebnisse überhaupt veröffentlichte. Den Bann der skeptischen Ungläubigkeit brach schließlich die Erkenntnis, dass eine bestimmte Krankheit japanischen Namens mit denselben Symptomen wie bei den Tierversuchen des Doktoranden tatsächlich über das von ihm entdeckte Krankheitsprinzip verursacht wird.

Der steilen Forschungskarriere unseres Gesuchten stand damit nichts mehr im Weg. Ihren Höhepunkt fand sie schließlich an einer Edeluni im Nordosten der USA – nach weiteren wichtigen Erkenntnissen insbesondere zur genetischen Basis des neuen Krankheitsprinzips und der potenziell mitverursachenden Rolle von Infektionen. Einmal war er gar für den Nobelpreis nominiert, bekommen hatten ihn dann aber doch andere. Er starb in diesem Sommer im Alter von 92 Jahren.

Wie heißt er?




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Der „Wiederzurückspritzer“ ist Noel Rose, der mit Schilddrüsen-Proteinen erstmals eine Autoimmunreaktion im selben Tier auslöste – und damit die Grundlage für Autoimmunkrankheiten entschlüsselte.