Die Richtungsvorgeberin

Ralf Neumann


Editorial

Rätsel

(30.04.2019) Gerade Wissenschaftlerinnen gelingt es manchmal, zu generellen Vorbildern ihrer Geschlechtsgenossinnen zu werden. Unsere Gesuchte gehört in ihrem Heimatland dazu.

Was haben Marcello Malpighi, Robin Holliday, Charlotte Friend und Melvin Calvin gemeinsam? – Sie alle entdeckten biologische Strukturen oder Mechanismen, die bis heute nach ihnen benannt sind. Auch unsere Gesuchte entschlüsselte zusammen mit ihrem Ehemann in E. coli den Ablauf eines wichtigen Zellvorgangs, dessen Schlüsselstrukturen bald darauf ihren gemeinsamen Namen trugen. Elf Jahre zuvor hatte sie diesen bei ihrer Eheschließung angenommen.

Zur Welt kam die spätere Namenspatin im gleichen Jahr, in dem die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler die Macht ergriffen und damit das Ende der Weimarer Republik besiegelten – dies allerdings ganze acht Zeitzonen weiter östlich. Doch obwohl derart weit entfernt, wurde ihr Heimatland schließlich ebenfalls in den Weltkrieg mit hineingezogen, den Hitler bald darauf aus­löste. Und am Ende erlitt es ebenso eine Niederlage wie das Dritte Reich.

Editorial

Die Nachwehen dieser Ereignisse sollten das Leben unseres Forscher-Ehepaares nachhaltig und entscheidend mitprägen. Nur wenig später wurden etwa in ihrem Land als unmittelbare Folge des verlorenen Krieges Frauen den Männern rechtlich gleichgestellt. Und so kam es, dass unsere Gesuchte zur ersten Generation von Frauen ihres Landes gehörte, die eine gleichberechtigte und gemeinsame Ausbildung mit Männern an Schule und insbesondere an der Universität erhielten.

Schnell witterte ihr Vater als Arzt unter den neuen Umständen die Möglichkeit, dass seine Tochter ebenfalls Medizin studieren könnte. Um sie zu motivieren, zeigte er ihr eines Tages unter dem Mikroskop, wie Penicillin Bakterien tötet. Damit war das Interesse seiner Tochter tatsächlich nachhaltig geweckt – jedoch nicht an Medizin, sondern an der Biologie. Später erklärte sie dazu in einem Interview: „Als Arzt musst du ein kontaktfreudiger Mensch sein. Das war ich nicht. Deswegen wählte ich die Biologie.“

Folglich ging sie zum Studium an die Universität der viertgrößten Stadt ihres Landes. Dort lernte sie auch ihren späteren Ehemann kennen, den sie gleich nach ihrem Abschluss heiratete – im selben Jahr, in dem die Sowjetunion den Ungarn-Aufstand niederschlug.

Zusammen durften sie an ihrer Universität bleiben, um mit eigener Forschung zu starten. Und obwohl die Labors in ihrem Heimatland damals sehr schlecht ausgestattet waren (auch eine Kriegsfolge), gelang ihnen bald die Entdeckung eines neuen Zucker-Nukleotids. Dieses ebnete ihnen schließlich den Weg zu einem dreijährigen Stipendium in den USA, das die beiden unter anderem in das Labor des späteren Nobelpreisträgers Arthur Kornberg brachte. Die Kontakte und die Unterstützung der US-Kollegen, mit denen sie dort zu tun hatten, sollten auch nach ihrer Rückkehr nie abreißen.

Zurück an ihrer Universität stürzte sich das Forscher-Paar nun endgültig auf „ihr“ Problem, das durch ein großes „Richtungsrätsel“ bei einem essentiellen Zellvorgang definiert war. Wie sie es am Ende lösten, gilt heute als Lehrstück für klare Hypothesenbildung sowie deren konsequenter und erfolgreicher Testung.

In dem Jahr, als hierzulande die Studentenunruhen ihren Höhepunkt erreichten, publizierten sie ihr Modell in zwei PNAS-Papern. Bald darauf taufte der US-Biochemiker Rollin Hotchkiss die charakteristischen molekularen Strukturen, die dabei entstehen, während eines Symposiums auf ihren Namen. Und so stehen sie bis heute in den Lehrbüchern.

Nur sieben Jahre später starb der Mann unserer Gesuchten an den Spätfolgen eines „Befehls“, mit denen die USA im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs den Widerstand ihres Heimatlands endgültig zu brechen gedacht hatten. Das Schicksal hatte es so gewollt, dass er am Tag X als Jugendlicher unweit eines der beiden Zielorte der „Maßnahme“ lebte.

Als frische Witwe alleine mit zwei Kindern sah die damals 42-Jährige zunächst keine Möglichkeit, weiter in der Forschung zu arbeiten. Doch zweierlei ließ sie umdenken: Der Zuspruch ihrer Forscherfreunde aus den USA, allen voran Arthur Kornberg, wie auch die enorme Hilfsbereitschaft ihrer Nachbarn bei der Bewältigung des Alltags.

So sollte sie am Ende auch das letzte Rätsel lösen, das im Gesamtbild des „richtungsweisenden“ Zellvorgangs noch fehlte. Und ganz nebenbei beschrieb sie im Zuge dessen erstmals Prinzip und Konzept des Primings, ohne das heute keine PCR funktionieren würde.

Vielfach gepreist blieb die bald 86-Jährige bis heute in verschiedenen Funktionen in und um die Wissenschaft aktiv. Doch waren es am Ende nicht nur ihre wissenschaftlichen Errungenschaften alleine, die unsere Gesuchte generell zu einem großen Vorbild für die Frauen ihres Landes machten. Verständlicherweise.




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Die „Richtungsvorgeberin“ ist die Japanerin Tsuneko Okazaki. Mit ihrem Ehemann Reiji entdeckte sie die nach ihnen benannten Okazaki-Fragmente und entschlüsselte damit den Mechanismus der diskontinuierlichen DNA-Synthese am sogenannten Folgestrang während der Replikation.