Der Knochenfinder

Ralf Neumann


Editorial

Rätsel

(29.11.2018) Früher fanden manchmal Amateure, was selbst die besten Spezialisten mehrfach übersahen. Zum Beispiel einen Zwischenkieferknochen.

Die Geschichte jeder wissenschaftlichen Disziplin kennt ihre eigenen Koryphäen. Zu denjenigen der Anatomie gehörte im 18. Jahrhundert zweifelsohne der holländische Arzt und Philosoph Peter Camper. Nach einigen Reisen, vornehmlich durch die holländischen Übersee-Kolonien, betrieb er ab 1755 eine Art „Lehrstuhl-Hopping“ über mehrere medizinische und philosophische Professuren seines Heimatlandes – konkret an den Universitäten Franeker, Amsterdam und Groningen. Doch dies nur am Rande...

Steigen wir hier lieber ein wenig in Campers anatomische Arbeiten ein, die sich vor allem um die Skelette von Mensch und Tier drehten. So war er es etwa, der erstmals beschrieb, dass einige Knochen von Vögeln luftgefüllt sind.

Editorial

Ganz besonders jedoch interessierte er sich für die anatomischen Grundlagen der Schädelformen. So kommt es nicht von ungefähr, dass Camper heute als Begründer der Kraniometrie als anatomische Sub-Disziplin gilt. Und zwangsläufig war er mit diesem speziellen Interesse auch einer der Ersten, die Anatomie vergleichend betrieben.

Besonderes Aufsehen erregten Campers Studien mit Affenschädeln, vor allem mit solchen von Orang-Utans. Schließlich brachte er mit seinen Ergebnissen nebenbei auch einiges Licht in die wahren Verwandtschaftsverhältnisse der höheren Primaten, den Menschen eingeschlossen. Beispielsweise konnte er mit seinen Schädelinspektionen erstmals den Orang-Utan als eigene Spezies etablieren und damit eine lange währende Konfusion um Orang-Utan und Schimpanse auflösen.

Doch wie man bereits aus anderen Beispielen weiß, bleiben auch Koryphäen nicht immer von Irrtümern verschont. Ein großer Irrtum Campers jedenfalls drehte sich um einen ganz bestimmten Zwischenkieferknochen, den er in all seinen untersuchten Wirbeltieren fand, auch den Orang-Utans – nur beim Menschen nicht. Und da gerade in dieser Zeit generelle Trennungsstriche zwischen Mensch und Tier allzu gerne aufgenommen wurden, ließ auch Camper sich zu dem Lehrsatz verführen, dass der Mensch sich grundsätzlich von den Affen unterscheide, da er diesen Zwischenkieferknochen nicht besitze.

Wer wollte es bei solch gewaltiger Bedeutung dieses Knochens jetzt noch wagen, die Richtigkeit von Campers Befund samt Schlussfolgerung in Frage zu stellen – und sie am Ende gar kritisch zu prüfen? Womöglich hat am Ende genau dieser Punkt mit für die nette Ironie gesorgt, dass letztlich niemand „vom Fach“, sondern im Jahre 1784 vielmehr ein ausgewiesener Amateur den bedeutungsschwangeren Knochen eben doch im Menschenschädel aufspürte. Womit wir endlich bei unserem Gesuchten angekommen wären.

Doch warum fand dieser ihn, und nicht Koryphäe Camper und seine Fachkollegen? Ein Grund war wohl, dass Camper zwar die Schädel erwachsener Menschen untersuchte und vermaß – aber offenbar niemals denjenigen eines Embryos. Denn in diesen, so sollte unser Gesuchter schließlich feststellen, ist der Zwischenkieferknochen noch am besten zu erkennen – bevor er im Säuglingsalter an seinen seitlichen Nähten endgültig mit den Nachbarknochen verwächst. Dies passiert zwar nicht in diesem Maße beim Orang-Utan, jedoch ganz genauso beim Schimpansen. Allerdings stand Camper von diesen kein Schädel zur Verfügung.

Warum aber hielt unser gesuchter Amateur überhaupt Ausschau nach dem Knochen? Zum einen, weil er sehr viel und sehr kritisch las – und deswegen beim Literaturstudium tatsächlich ältere Hinweise auf die verräterischen Verwachsungsnähte im Menschenschädel aufspürte. Und zum anderen, weil zu seinen überaus vielen Gaben auch diejenige gehörte, sich die „Dinge der Natur“ genauer anzuschauen und zu begreifen als selbst die meisten Spezialisten.

Seine Abhandlung über das gefundene Knöchelchen war zwar glänzend geschrieben, denn auch das konnte er absolut meisterlich – dennoch blieb sie zu seinem eigenen Ärger aus den zuvor genannten Gründen selbst in der Fachwelt auf Jahrzehnte unbeachtet. Und auch heutzutage ist unser Gesuchter keineswegs wegen dieser Entdeckung wohlbekannt. Mehr noch, damals wie heute verbindet so gut wie keiner seinen Namen mit der Entdeckung dieses Zwischenkieferknochens. Sehr viel prägender für seinen Ruhm war vielmehr eine Reihe ganz anderer Abhandlungen – so etwa zu den Themen Fieberfantasien bei Kindern, Selbstmordgefährdung von jungen Erwachsenen oder Realitätsverlust bei alternden Forschern.

Wie heißt der „Amateur“?




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Der „Knochenfinder“ war natürlich Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), der damals in Jena erstmals den menschlichen Zwischenkieferknochen beschrieb. Die am Ende des Rätsels erwähnten „bekannteren Abhandlungen“ waren „Der Erlkönig“, „Die Leiden des jungen Werther“ und „Faust“.