Die Kristall-Praktikerin

Ralf Neumann


Editorial

Rätsel

(26.01.2018) Ein wahrhaft gutes Team: Ihr Mann war der Theoretiker – und sie übertrug seine Theorien erfolgreich in die experimentelle Praxis. Den Nobelpreis jedoch bekam nur er.

Die Kampfhandlungen des Zweiten Weltkriegs tobten zwar Tausende von Kilometern entfernt, aber dennoch war dieser der Grund für das leicht skurrile Schauspiel, das sich an einem helllichten Tag des Jahres 1944 an einer Universität im Norden der Vereinigten Staaten abspielte: Eine junge Frau, die eher noch aussah wie eine High School-Schülerin, trug eine ganz normale Tasche quer über den ganzen Campus von ihrem Chemie-Institut zu den Kollegen in der Physik – und wurde dabei rechts und links jeweils von einem Sicherheitsbeamten flankiert. Laut unserer Gesuchten zog die Szene damals viele erstaunte Blicke auf sich – und mit den Informationen, die in den folgenden Monaten und Jahren durchsickerten, dürfte den meisten Beobachtern später ziemlich klar geworden sein, an welchem streng geheimen Projekt die junge Chemikerin damals konkret mitarbeitete.

Was sich liebt, das neckt sich

Ihren Mann hatte die damals 23-Jährige bereits zwei Jahre zuvor geheiratet. Erstmals begegnet war die Tochter polnischer Einwanderer dem Sohn einer Familie, die ebenfalls osteuropäische Wurzeln hatte, in einem Chemie-Kurs an einer anderen Universität im Norden der USA. Er besuchte den Kurs im Rahmen seiner Doktorarbeit, sie hatte damals ein Bundesstaaten-Stipendium für ein Chemie-Programm ergattert. Anfangs, so erzählte unsere Gesuchte später, mochten sie sich nicht besonders und sprachen kaum miteinander. Zudem war bereits nach dem ersten Kurstag klar, dass die beiden mit Abstand die Besten und Schnellsten ihres Kurses waren; und so verbrachten sie die ersten Kurswochen in einer Art spät-pubertärer Konkurrenz zueinander – sie wollte ihn in den Kursergebnissen schlagen, und er sie natürlich auch.

Editorial

Klassischer Fall von „Was sich liebt, das neckt sich“ also. Folgerichtig begannen sie irgendwann auch ihre Freizeit miteinander zu verbringen – und legten damit den Grundstein für das, was sich in den kommenden Jahren zu einer Art Traumpaar der Kristallographie entwickeln sollte.

In ihrer produktivsten Phase war es jedoch – streng genommen – ein Quartett, das sich unmittelbar nach dem Krieg an einem Marineforschungsinstitut der US-Regierung zusammenfand. Unsere Gesuchte war gerade ihrem Ehemann dorthin gefolgt, wo er bereits einen Kollegen aus der Mathematik für die theoretischen Probleme der Strukturanalyse organischer Moleküle anhand von Röntgen- und Elektronenbeugungsmustern begeistert hatte.

Bleibt noch Nummer Vier des Quartetts: Einer der ersten Großrechner überhaupt von IBM. Ohne diesen Großrechner hätten der Ehemann und der Mathematiker damals wohl kaum ihre Modelle entwickeln und überprüfen können, nach welchen Gesetzmäßigkeiten die erhaltenen Beugungsmuster mit den dreidimensionalen Strukturen der untersuchten Moleküle mathematisch zusammenhängen.

Die Reaktion der Kollegen auf die Theorie fasste der Ehemann später so zusammen: „Die meisten glaubten nicht ein Wort von dem, was wir geschrieben hatten.“ Diese tiefe Skepsis sollte erst weichen, als unsere Gesuchte auf der Basis der theoretischen Errungenschaften ihres Mannes und seines Partners tatsächlich auch praktisch die Strukturen „schwieriger“ Moleküle knackte – darunter beispielsweise auch Peptide und tierische Toxine.

1966 publizierte das Ehepaar schließlich ein „Meilenstein-Paper“, das den Kollegen zusammen mit der entsprechend weiterentwickelten Software endgültig das Tor zur routinemäßigen Strukturanalyse komplexer Moleküle aufstieß.

Als dann einige Jahre später die beiden Theoretiker, nicht aber unsere Gesuchte, den Chemie-Nobelpreis erhalten sollten, wollte der Ehemann diesen aus lauter Ärger darüber ausschlagen. Seine Frau jedoch stimmte ihn letztlich um – sinngemäß mit den Worten: „Reg‘ dich doch nicht auf, ich hab‘ genug andere Preise bekommen.“

Wer war sie?




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Die gesuchte „Kristall-Praktikerin“ ist die US-Chemikerin Isabella Karle, die erst kürzlich am 3. Oktober 2017 im Alter von fast 96 Jahren verstarb.