Der emigrierte Goethe-Verehrer

Winfried Köppelle


Editorial

Rätsel

(27.10.2017) Wir suchen einen der ganz großen Biochemiker des 20. Jahrhunderts, der Bahnbrechendes zur Glykolyse und zur physiologischen Rolle des Adenosintriphosphats veröffentlichte, aber auch zeitlebens ein Verehrer der schönen Künste war.

Die Franzosen nahmen ihn mit Kusshand, klar. Den genialen Nobelpreisträger aus Heidelberg, Superstar der internationalen Biochemie und Nebenberufs-Philosophen, dem man wegen seines nicht ins völkische Konzept passenden Glaubens die Lehrbefugnis entzogen und mit immer neuen Schikanen von der Uni vertrieben hatte. 1938 wurden ihm die Repressalien zu groß – wie vor ihm schon Edward Teller, Fritz Haber, Hans Krebs, Max Perutz und Leó Szilárd, um nur die berühmtesten Kollegen zu nennen – und unser Mann emigrierte nach Paris ans dortige Institut de Biologie Physico-Chimique. Als Direktor, klar – im Gegensatz zu seinen Landsleuten wussten unsere linksrheinischen Nachbarn die akademische Extraklasse des hier Gesuchten zu würdigen.

Editorial
Als Flüchtling in Frankreich

Leider ging es auch an der Seine nur zwei Jahre lang gut. Im Juni 1940 standen Stahlhelm-bemützte Teutonen an der Stadtgrenze, während ihre Blitzkriegs-berauschten Genossen anfingen, den Süden zu überrennen. Unserem Mann gelang nur knapp die Flucht, und über Spanien verließ er das zerstörte Europa. Elf Jahre später starb der in Sachen Biochemie vielleicht produktivste und klügste Kopf seiner Zeit in einer Millionenstadt am Delaware River an einem Herzinfarkt.

Der Mann, um den es hier geht, hat den Zusammenhang zwischen Sauerstoffverbrauch und Milchsäure-Metabolismus im menschlichen Muskel aufgeklärt und die zentrale Rolle von Adenosintriphosphat für den Energiestoffwechsel entdeckt; er hat die wichtigsten Einzelreaktionen und Intermediärprodukte der Glykolyse aufgedröselt und eine Anzahl der dafür notwendigen Enzyme bestimmt. Geboren in Hannover als Sohn eines jüdischen Textilkaufmanns und aufgewachsen in Berlin, war der Gesuchte aber auch geisteswissenschaftlich interessiert. Während seines Medizinstudiums kam er in Kontakt mit einer studentischen Clique aus Möchtegern- und tatsächlichen Philosophen, und nach seiner Promotion (zur „Theorie der Geistesstörung“) machte er mit einem inhaltlich hochgelobten Essay über Johann Wolfgang von Goethes „Methoden der Naturforschung“ auf sich aufmerksam.

Zu der Zeit war unser Mann längst in der Kurpfalz angelangt und arbeitete an der Medizinischen Klinik in Heidelberg eng mit einer fast gleichaltrigen späteren Legende der Naturwissenschaften zusammen: mit dem Freiburger Otto Heinrich Warburg, der später auch noch den für die Zellatmung zentralen Enzymkomplex, die Cytochrom-C-Oxidase, entdecken sollte.

Der hier Gesuchte hingegen wurde mit 34 Jahren Assistenzprofessor – und keine vier Jahre später sogar Nobelpreisträger; an seinen grundlegenden Beiträgen zum Zellstoffwechsel kam das Preisvergabe-Komitee einfach nicht mehr vorbei. Prompt versuchte man, den Top-Forscher in die USA zu locken, doch vorerst wurde nichts daraus: Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Vorgänger der Max-Planck-Gesellschaft, verschaffte ihm flugs einen wohldotierten Direktorenposten, und so wechselte unser Mann ziemlich genau zu der Zeit, als sich in München Hitler und Ludendorff wegen Polizistenmord und Hochverrat vor Gericht verantworten mussten, nach Berlin (und fünf Jahre später zurück nach Heidelberg). 14 Jahre später hatten die politischen Ereignisse unseren Mann dennoch eingeholt, und er verließ Deutschland für immer.

Wie erwähnt, beschäftigte sich der gelernte Mediziner in seiner Freizeit intensiv mit dem umfangreichen naturwissenschaftlichen Werk Goethes, publizierte darüber und hielt gut besuchte Vorträge zum Thema. Daneben interessierte er sich auch für Psychologie und Literatur; als Jugendlicher verfasste er Gedichte.

Wie heißt der Mann, der mit einer Malerin verheiratet war und nach dem der zentrale eukaryotische Stoffwechselprozess beim Abbau von Kohlenhydraten benannt ist?




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Der gesuchte, emigrierte Goethe-Verehrer ist der deutsch-amerikanische Biochemiker Otto Meyerhof (1884-1951). Nachdem dieser in seiner Doktorarbeit „Beiträge zur psychologischen Theorie der Geistesstörung“ veröffentlicht und sich eine Zeitlang mit Philosophie und Goethes Methoden der Naturforschung beschäftigt hatte, kam Meyerhof 1910 in Heidelberg mit Otto Warburg zusammen; grundlegende Arbeiten zur Energetik der Zellvorgänge waren die Folge. Für die „Entdeckung des Zusammenhangs zwischen Sauerstoffverbrauch und Milchsäurestoffwechsel im Muskel“ erhielt er 1922 den Nobelpreis; zwischen 1929 und 1936 gelang ihm die Entdeckung der physiologischen Rolle von ATP sowie die Aufklärung der Einzelschritte der Glykolyse (Embden-Meyerhof-Weg).