Der selbstironische Chromosomen-Detektiv

Winfried Köppelle


Editorial

Rätsel

(26.01.2017) Er entwickelte das bis heute gültige Modell zur Krebsentstehung, indem er das Geheimnis um ein seltsames Zellartefakt lüftete.

Die Frage, was Krebs eigentlich ist und wie er entsteht, beschäftigt die Menschheit seit Jahrtausenden. Überliefert ist beispielsweise die tragische Geschichte der schönen Atossa, Gemahlin von Dareios dem Großen im fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Der Geschichtsschreiber Herodot berichtet, die persische Königin habe an einem blutenden, nässenden Geschwür in ihrer Brust gelitten, bis es von einem heilkundigen Sklaven namens Demokedes entfernt worden sei. Die Patientin sei danach wieder vollständig gesundet. Die erste erfolgreiche Tumorbehandlung der Weltgeschichte, eine Komplettremission nach Tumorresektion!

Geschichtswissenschaftler, denen jeder Sinn für Romantik fehlt, bemäkeln allerdings, dass an dieser gefühlsduseligen Story rein gar nichts belegt sei. Schon deswegen, weil Herodot 490 v. Chr. geboren sei und sie daher nicht persönlich miterlebt haben könne; der berühmte Historiker habe wohl nur seinen griechischen Landsmann Demokedes, den angeblich „besten Arzt seiner Zeit“, beweihräuchern wollen. Eventuell habe er diesen sogar komplett erfunden. Nicht einmal die Krebserkrankung der Königin, die nach ihrer angeblichen Heilung immerhin 75 Jahre alt wurde, sei belegt. Gut belegt hingegen ist der Namensgeber für die grausame Krankheit: der ebenfalls griechische Arzt Hippokrates titulierte sie erstmals als Karkinos, zu deutsch: Krebs. Hippokrates lehrte seinen Studenten auch die ersten Krebstherapien, riet bei Metastasen aber zu Zurückhaltung – und hatte damit angesichts der damaligen Operations- und Hygienestandards sicherlich recht.

Editorial
Die mysteriöse Heimsuchung

Weit bis ins 20. Jahrhundert hinein war den Ärzten die Ursache von Krebs schleierhaft und die gängigen Behandlungsmethoden entsprechend sinnlos – ob Akupunktur, Aderlass oder die Verabreichung von Brech- und Abführmitteln. Und wer nach einem chirurgischen Radikaleingriff nicht an einer postoperativen Infektion starb, den raffte wenig später ein Rezidiv dahin. Seit den Zeiten der schönen Atossa kam die Diagnose Krebs einem Todesurteil gleich.

Das hat sich grundlegend geändert. Viele häufig auftretende Tumorarten sind heute heilbar, Hodenkrebs beispielsweise überleben mehr als 95 Prozent der Betroffenen. Auch bei den früher gar nicht behandelbaren Leukämien sind die Überlebenschancen inzwischen enorm – nicht zuletzt dank des links abgebildeten Mediziners. Dieser untersuchte als 32-jähriger Postdok an der University of Pennsylvania die Granulozyten von Patienten, die an chronischer myeloischer Leukämie (CML) erkrankt waren. Seinem Doktoranden fiel dabei ein ungewöhnlich kleines Chromosom auf, das sich in nahezu allen malignen Blutzellen fand und später nach dem Ort seiner Entdeckung benannt wurde. Es entpuppte sich später als verkürztes Chromosom 22, entstanden durch eine anomale Translokation: Die Chromosomen 9 und 22 zerbrechen und die entstehenden Stücke werden falsch wieder zusammengefügt. Offenbar ist dies die Ursache für die Entartung des blutbildenden Systems von CML-Patienten.

Diese Schlussfolgerung war ebenso ketzerisch wie wegweisend für die gesamte medizinische Forschung. Denn sie bedeutet: Krebs hat eine genetische Ursache. Man darf dabei nicht vergessen, dass die damaligen Kapazitäten gegensätzlicher Meinung waren; sie favorisierten damals die Virentheorie. Unser von Zeitgenossen als humorvoll und selbstironisch charakterisierte Postdok behielt jedoch Recht, begründete die Disziplin der Krebs-Zytogenetik und entwickelte das bis heute gültige Modell der Krebsentstehung: Eine gesunde Zelle verwandelt sich durch eine oder mehrere genetische Veränderungen in eine maligne Tumorzelle. Der vermutlich bahnbrechendste Wirkstoff der Krebsmedizin, Imatinib, wäre ohne die Vorarbeiten des Gesuchten ebenfalls nie entwickelt worden. Wie heißt er?




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Der gesuchte, selbstironische Chromosomen-Detektiv ist der amerikanische Krebsforscher Peter Nowell (1928-2016). Zusammen mit David Hungerford lüftete er 1960 an der University of Pennsylvania das Geheimnis um das nach seinem Entdeckungsort genannte „Philadelphia“-Chromosom: Durch eine Translokation zwischen den Chromosomen 9 und 22 entsteht ein verkürztes Chromosom 22 – und diese Aberration verursacht Krebs (in diesem Fall chronische myeloische Leukämie). Nowell entwickelte daraufhin das bis heute gültige Modell zur Krebsentstehung: Kontrolliert wachsende Zellen transformieren durch eine Mutation zu unkontrolliert wachsenden Tumorzellen. Die Entdeckung Nowells, dass eine vorherige Bestrahlung die Erfolgsrate einer Knochenmarkstransplantation erhöht, rettete zudem unzähligen Krebspatienten das Leben.