Der belgische Agnostiker

Winfried Köppelle


Editorial

Rätsel

(28.01.2016) Er fand heraus, wie der Blutzuckerspiegel reguliert wird, entdeckte die zellulären Müllschlucker, und half dabei mit, die Herkunft komplexer Zellen zu beleuchten.

Er habe vor dem Tod keine Angst, denn er sei nicht gläubig; er werde einfach verschwinden und nichts werde bleiben. So äußerte sich der zu diesem Zeitpunkt bereits schwerkranke 95-Jährige gegenüber dem Reporter einer Zeitung. Wenige Wochen später war es soweit: Der letzte noch lebende Nobelpreisträger seines Landes, Abkömmling einer Adelsfamilie und Namensgeber eines Instituts für Zell- und Molekularpathologie, war dahingegangen.

Ein Kollege des Gesuchten hatte das große Dilemma der Biologie in der Mitte des 20. Jahrhunderts einmal wie folgt beschrieben: „Das Zellinnere war für uns genauso weit weg wie Sterne und Galaxien.“ Unerreichbar und unsichtbar selbst für die besten Lichtmikros­kope blieben die geheimnisvollen molekularen Geschehnisse und Strukturen, und auch das Elektronenmikroskop hatte den Zellbiologen keine echte Abhilfe gebracht: nur fixiertes Gewebe, doch nichts Lebendiges war damit auszuspähen. Unser Mann war einer von jenen, die mit findigen Einfällen und neuartigen Methoden frischen Wind in die festgefahrenen Laborroutinen pusteten.

Editorial

Als Weltkriegskind einer Flüchtlingsfamilie im Ausland geboren, beschreibt er sich selbst als „frühreifen Knaben“, der immer der Beste an seiner Jesuitenschule gewesen sei – außer in jenem Jahr, in dem er „außer Konkurrenz“ mitlief, um den anderen auch mal eine Chance zu geben.

Blick ins Innere der Eukaryotenzelle

Nach dem Zweiten Weltkrieg, der dem 23-Jährigen eine „eher drollige als heldenhafte“ Flucht aus deutscher Gefangenschaft bescherte, machte sich der junge Forscher daran, das rudimentäre Wissen über die Enzyme der Bauchspeicheldrüse kräftig zu erweitern: Was er binnen weniger Jahre über die Langerhans-Inseln herausfand, füllte ein Buch mit 400 Seiten und machte den 27-Jährigen zum Doktor der Chemie.

In den Nachkriegsjahren war unser Mann als Gastforscher bei mehreren Nobelpreisträgern zugange, etwa in Stockholm bei Hugo Theorell sowie in St. Louis bei der Familie Cori und Earl Wilbur Sutherland. Dabei stolperte er über ein 1923 entdecktes, längst vergessenes Peptidhormon; dessen Hauptaufgabe, so fand er heraus, die Erhöhung des Blutzuckerspiegels mittels Glycogenabbau ist. Bis 1953 klärte er so ziemlich alles auf, was man noch nicht über dieses Hormon wusste: dessen Bildungsort in pankreatischen Alphazellen, dessen Aufreinigung, und dessen Funktion als Senker des Blutzuckerspiegels und Gegenspieler von Insulin. Da war er bereits Jungprofessor an der Katholieke Universiteit und auf dem besten Weg, sowohl das Schlüsselenzym des Zuckerstoffwechsels dingfest zu machen als auch zwei gänzlich neue Kompartimente als „zelluläre Müllschlucker“ zu identifizieren.

Um sich im mit tausenden unbekannter Partikel gefüllten Zellinneren zurecht zu finden, perfektionierte er die 1930 entwickelte Methode der Zellfraktionierung, bei der die Zellorganellen intakt und weitgehend funktionsfähig bleiben. Die erwähnten, neu gefundenen Bestandteile entpuppten sich als „Bläschen“, gefüllt mit mehr als 50 hydrolytischen Enzymen zum Abbau überflüssig gewordener Zellbestandteile. Gegen Ende seiner Karriere lieferte der Gesuchte noch wichtige Argumente für eine bestechend originelle Theorie: nämlich dass einst Bakterien von anderen Prokaryoten durch Phagozytose aufgenommen wurden und sich später in ihren Wirtszellen zu Organellen entwickelt haben.

Als es mit ihm gesundheitlich bergab ging, wählte er den Freitod in Gegenwart seiner Kinder – ganz abgeklärt-rational, so wie er zeitlebens auf die Welt blickte: „Das Leben, wie wir es heute sehen, ist nur das Ergebnis von natürlicher Selektion. Und diese hat genauso viel Mitgefühl für einen Dichter wie für einen Skorpion – nämlich keines“. Wie heißt er?




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Der gesuchte, belgische Agnostiker ist der Biochemiker Christian de Duve (1917-2013). Der Sproß einer Adelsfamilie verbrachte seine ersten drei Lebensjahre als Kriegsflüchtling und Asylant in England. Mit 24 Jahren bestand er seine Doktorprüfung; er bekleidete zwei Professuren, zunächst (ab 1951) in Löwen und ab 1962 parallel dazu am Rockefeller-Institut in New York. De Duves Forschungsergebnisse über Hormone (speziell Insulin und Glycagon) füllen Lehrbücher; er entdeckte zudem zwei bis dahin unbekannte Zellorganellen, die Lysosomen und die Peroxisomen, und lieferte wichtige Beiträge zur Endosymbiontentheorie. 1974 erhielt er den Medizin-Nobelpreis „für seine Entdeckungen zur strukturellen und funktionellen Organisation der Zelle“.
–– Erratum: Anders als im Rätseltext dargestellt, erhöht Glucagon den Blutzuckerspiegel!