Der verspielte Grundlagenforscher

Winfried Köppelle


Editorial

Rätsel

(27.04.2015) Stur hinterfragte er eine vermeintlich nebensächliche Zufalls­beobachtung – und bescherte der Krebsmedizin damit ihre bislang wirksamste Waffe.

Die Geschichte beginnt vor gut 50 Jahren im Nordosten der USA, an einer der besten staatlichen Universitäten des Landes. Den Hybridmais hat man hier entwickelt und die homogenisierte Milch. Eine dritte hochgerühmte Errungenschaft dieser Einrichtung ist das, was unser Gesuchter hier in den 1960er Jahren entdeckte. Schon damals, mit 35 Jahren, war sein Haupthaar reduziert und der Hang zum Übergewicht unverkennbar. Auf manchen Fotos ähnelt er dem Schauspieler Danny DeVito wie ein Twin dem anderen, auch wenn der Hollywood-Mime erst 18 Jahre nach ihm zur Welt kam. Und noch eine Parallele gibt es: DeVito gelangte als skurriles Ergebnis genetischer Samenspenderversuche zu Weltruhm; der hier Gesuchte wurde bekannt durch das Ergebnis seiner skurrilen Versuche.

Und das kam so: Eines Tages schoss ihm eine verblüffende Analogie ins Bewusstsein. Sah eine mitotische Zelle in der Anaphase, mit dem die beiden Pole verbindendem Spindelapparat, nicht genauso aus wie das Dipolfeld eines Stabmagneten, sichtbar gemacht mit Eisenspänen? Nicht mehr als ein Gedankenspiel, doch unser Mann beschloss umgehend, die Wirkung elektri­scher Felder auf das Wachstum von E. coli-Zellen auszutesten: Zwischen zwei Feld-erzeugenden Elektroden installierte er eine Brutkammer, darin Bakterien in einer Nährlösung. Er hatte mit erhöhtem Wachstum gerechnet, nicht aber mit dem Gegenteil: Die Bakteriendichte sank. Offenbar legte irgendetwas die Zellteilung lahm.

Editorial
Zufallsfund mit dramatischen Folgen

Welcher Natur aber war der unbekannte Hemmstoff? Es stellte sich heraus, dass eine chemische Reaktion an den Elektroden zur Bildung zweier Isomere einer bereits seit 1844 bekannten Verbindung geführt hatte. Eines dieser Isomere entsteht in großer Menge, das andere nur in Spuren. Und es ist die letztgenannte Variante und nicht etwa die Elektrizität, welche die Zellteilung hemmt. Nach wenigen Jahren hatte unser Mann das rätselhafte Zytostatikum dingfest gemacht: Ein planarer Komplex mit zwei daran gebundenen Ligandenpärchen; mit einer molaren Masse von 300 und aufgereinigt als gelbes Pulver vorliegend. Aber würde es auch an anderen Lebewesen wirken?

Unser Mann verabreichte es Mäusen, später auch Hunden und Affen, die an Tumoren litten – und diese starben jeweils deutlich später als ihre Schicksalsgenossen, denen die neue Substanz versagt blieb. Offenbar wirkte das neue Mittel gezielt auf Tumorzellen! Und es zeigte sich, dass der Effekt, besonders bei soliden Tumoren, weit durchschlagender war als alles, was die Krebsmediziner bislang im Köcher hatten: Der erste Patient, dem die neue Substanz, kombiniert mit zwei weiteren Wirkstoffen, verabreicht wurde, war von seinen Ärzten längst aufgegeben worden. Binnen zehn Tagen verschwanden seine Lungenmetastasen gänzlich. Das war 1974.

In der Folge bewirkte die neue Therapieform geradezu dramatische Heilerfolge – so etwa gelang es im Fall von Hodenkrebs, von einst 80 Prozent tödlicher Krankheitsverläufe auf 95 Prozent Heilungen zu kommen. Inzwischen kennt man auch die molekulare Wirkungsweise des Wunderpräparats: Zwei benachbarte Guanin-Basen eines DNA-Strangs werden querverknüpft und die Replikation dadurch verhindert; wegen des gestoppten Zellstoffwechsels kommt es zur Apoptose. Eine Schattenseite sind die heftigen, oftmals als „brutal“ geschilderten Nebenwirkungen: Übelkeit, Erbrechen, Haarausfall, Erschöpfungszustände.

Wie heißt der Gesuchte, dessen „zufälliges Heilmittel“ in den letzten 40 Jahren Millionen von Leben gerettet hat und dessen Vita ein hervorragendes Argument dafür ist, dass man Grundlagenforscher nicht drangsalieren und reglementieren, sondern „herumspielen“ lassen muss?




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Der gesuchte, verspielte Grundlagenforscher ist der amerikanische Biophysiker Barnett Rosenberg (1926-2009). Zufällig bemerkte er Anfang der 1960er Jahre, dass sich Bakterien in einem elektrischen Feld nicht mehr teilen; als Ursache machte er die elektrolytisch aus den Elektroden entstandenen, in Lösung gegangenen Platinsalze aus. Weitere Versuche zeigten, dass diese auch die Teilung von Tumorzellen hemmen. Mit Kollegen entwickelte Rosenberg daraufhin das bis heute verwendete Zytostatikum Cisplatin.