Der humorvolle Elsässer

Winfried Köppelle


Editorial

Rätsel

(05.03.2015) Der biedere Zoologieprofessor mit Hang zu wunderlichen Säugetierordnungen erreichte mit Schalk in den Augen ein biblisches Alter.

Unser Planet ist fürwahr von seltsamen Lebewesen bevölkert: Schnabeltier, Pfeilschwanzkrebs, Nacktmull und Oktopus sind Zeitgenossen, die uns drögen Zweibeinern mit angepasstem Einheitslook nicht eben „normal“ dünken. Es geht noch schräger: Der Axolotl (übersetzt: „Wassermonster“) wird dank Schilddrüsendefekt nie richtig erwachsen und lässt darüber hinaus im Verletzungsfall große Teile seines Körpers einfach neu entstehen; das Faultier sieht aus wie Meister Yoda höchstpersönlich und hängt den ganzen Tag phlegmatisch vom Regenwaldbaum; der Koboldmaki glotzt aus Augäpfeln, die größer sind als sein Gehirn. Und der skurrile Nasenaffe, Nasalis larvatus, schwimmerisch hochbegabt und mit birnenförmigem Riechorgan, ist der feuchte Traum eines jeden Comiczeichners.

Wenn wir schon bei Viechern mit seltsamen Organen sind: Den vielleicht seltsamsten bislang bekannten Tieren widmete sich ein humorvoller Herr, der vor einem guten Jahrhundert in Straßburg zur Welt kam. Mit 23 Jahren promovierte er in Heidelberg über die Herzfunktion eines weltweit verbreiteten, lichtscheuen Insekts, von dem es heißt, dass es selbst einen Atomkrieg überleben würde; elf Jahre später habilitierte er sich in Darmstadt und wurde Professor. Er forschte, bildete Studenten aus – und stieß eines Tages bei einer Literaturrecherche auf die Beschreibung einer rätselhaften Spezies, verfasst um die Jahrhundertwende von einem Münchener Lyriker. Zwar war dessen Veröffentlichung amateurhaft, in kindlichem Duktus abgefasst und entsprach keineswegs den strengen Regeln wissenschaftlicher Klassifizierung – doch die Neugier unseres Professors war geweckt.

Editorial
Richtungsweisende Monografie

Er arbeitete sich ins Thema ein, fand immer weitere Merkwürdigkeiten über die bewusste Tierart, und bekam schließlich das Manus­kript eines Kollegen zugespielt, der bei einer zoologischen Expedition am anderen Ende der Welt durch nukleare Tests verunglückt war: Alle Präparate, Fotografien und Originalaufzeichnungen seien dabei vernichtet worden. Schlimmer noch: Auch die eben erst neu entdeckte Ordnung sei dabei gleich wieder ausgerottet worden. Lediglich das Manuskript war auf unbekannten Wegen nach Deutschland gelangt.

Unser Mann fühlte sich dem toten Kollegen verpflichtet und brachte 1957 dessen Niederschrift als richtungsweisende Monografie heraus. Sie gilt bis heute als Standardwerk und beschreibt fundiert, detailverliebt und sehr anschaulich die Lebensweise, Anatomie und Physiologie einer kuriosen, heute ausgestorbenen Tiergruppe, die sich vor allem durch ihr groteskes Fortbewegungsorgan auszeichnet. Dessen evolutionäre Genese findet Parallelen in der Entstehung der Flügel bei den Vorfahren der heutigen Vögel, die bekanntermaßen ja umgebildete Vorderextremitäten sind: Auch bei den einzelnen Arten der nunmehr neu beschriebenen Tiergruppe verlor ein sehr charakteristisches Organ im Laufe der Zeit seine eigentliche Funktion und erhielt eine ganz andere, neue Aufgabe. Es diente nun wie bei den Vögeln primär der Fortbewegung (allerdings zu Lande), aber auch anderen Zwecken, und sei ein Paradebeispiel für Homologie und Analogie in der Anatomie. Kennzeichnend für die beschriebene Organismengruppe ist neben der erwähnten funktionellen Organumbildung ihre gemächlich-unaufgeregte Fortbewegungsweise, ihr für menschliche Augen skurriles äußeres Erscheinungsbild sowie ihr unkonventionelles Verhalten, etwa bei der Balz, der Paarung und der Jagd nach Beute.

Sämtliche Zeichnungen in diesem Werk stammen übrigens aus der Feder des Gesuchten, der fünfzehn Jahre nach seiner verlegerischen Großtat von der TH Karlsruhe emeritierte, noch vierzig Jahre im Nordschwarzwald den Ruhestand genoss und unlängst im 102. Lebensjahr das Zeitliche segnete. Wie heißt er?




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Der gesuchte, humorvolle Elsässer ist der deutsche Zoologe Gerolf Steiner (1908-2009). Steiner, der 1931 in Heidelberg promovierte, baute ab 1962 an der TH Karlsruhe das zoologische Institut mit auf. Bekannt wurde er weniger mit seinen durchaus ernsthaften Forschungen und auch nicht durch sein 1992 erschienenes, ihm sehr am Herzen liegen- des Spätwerk zur Überbevölkerung (Wir sind zu viele – was tun?), sondern durch seine als wissenschaftlicher Witz gedachte Monografie Bau und Leben der Rhinogradentia, veröffentlicht 1961 unter dem Pseudonym Prof. Dr. Harald Stümpke. Darin beschrieb er, inspiriert durch das Morgenstern-Gedicht „Das Nasobem“, die Anatomie und das Ver- halten der fiktiven Säugetierordnung Rhinogradentia – eine Entdeckung, die der amerika- nische Zoologe G. G. Simpson „das aufregendste zoologische Ereignis bis jetzt“ nannte.