Der lebensmüde Waffenexperte

Winfried Köppelle


Editorial

Rätsel

(02.06.2014) Beging er wirklich Selbstmord, oder wurde er ermordet? Bis heute sind die Umstände unklar, die zu seinem Tod führten.

„Falls wir in den Irak einmarschieren, findet man mich tot im Wald“, scherzte er. Mit „wir“ meinte er die „Koalition der Willigen“, die den völkerrechtswidrigen Angriff der USA im März 2003 guthieß. Doch dann lag in Oxfordshire ein Mann im Wald, und der scherzte nicht mehr, der war mausetot. Jetzt war die Aufregung groß. Immerhin hatte dieser mitgeholfen, den Konflikt zu legitimieren: Die vermeintlichen Beweise, dass Saddam Hussein Massenvernichtungspotenzial besaß und dieses kurzfristig einsatzbereit machen könne, stammten von ihm.

In seinem Spezialfach vermochten ihm weder kommunistische noch schnauzbärtige Diktatoren etwas vormachen. Der auf Viren spezialisierte Mikrobiologe begann in den 1980ern als Berater für das britische Verteidigungsministerium zu arbeiten. Nach dem Fall der Berliner Mauer besuchte er die Sowjetunion, um mögliche Verstöße gegen die Biowaffenkonvention der Vereinten Nationen zu untersuchen, und ab 1991 als UN-Waffeninspektor insgesamt 37-mal den Irak. Als man ihm dort Babynahrungs-Fabriken vorführte, entlarvte sein Team diese als funktionstüchtige Anlagen zur Biowaffenproduktion. Ein PR-Gau ohnegleichen für Saddam Hussein, der daraufhin gezwungen war, die Existenz seines Biowaffenprogramms öffentlich zu- und anschließend aufzugeben. Der britische Geheimdienst hielt hohe Stücke auf ihn und konsultierte den Gesuchten, der freien Zugang zu Staatsgeheimnissen hatte, regelmäßig als Fachmann für Fernost. Niemand hielt ihn für einen Schwätzer oder gar Verräter.

Editorial
Fleißig, respektiert, sorgfältig

Dies sollte sich im Mai 2003 ändern. Die BBC behauptete in einer TV-Dokumentation, der PR-Berater des Premierministers habe ein Geheimdienstdossier über irakische Massenvernichtungswaffen aufgebauscht, um Pazifisten vom notwendigen Krieg gegen das Hussein-Regime zu überzeugen. Man habe die eigenen Bürger belogen. Die Regierung war konsterniert und suchte fieberhaft nach dem Whistleblower, während das Verteidigungsministerium der BBC Druck machte. Die Verantwortlichen des Senders knickten ein und lieferten ihren Informanten ans Messer. Sie ahnen es: Es war der Gesuchte.

In einer peinlichen Befragung vor einem Untersuchungsausschuss gab unser Mann zwar zu, sich mit einem Reporter getroffen zu haben; die gesendeten Informationen seien jedoch nicht von ihm. Zwei Tage später fand man ihn tot im Wald, mit einer durchschnittenen Arterie und zuviel Schmerzmittel im Körper. Selbstmord? Mehrere Mediziner zweifelten die offizielle Version an. Warum war so wenig Blut am Tatort und warum keine Fingerabdrücke auf der Selbstmordwaffe? Und warum hatte unser Mann noch 24 Stunden vor seinem Tod in einer privaten E-Mail berufliche Zukunftspläne geschmiedet und über die bevorstehende Heirat seiner Tochter geplaudert – bringt sich so jemand um?

Ein ehemaliger Lordrichter wurde mit der „Klärung der Todesumstände“ beauftragt. Er bestätigte die Selbstmord-These: Der Gesuchte sei stark gestresst gewesen und habe sich in einer ausweglosen Lage gesehen. Die Kritiker überzeugte das nicht. Sie bemängelten mangelhafte und fehlende Analysen der Untersuchungskommission, die kaum gesetzliche Befugnisse besaß und der man straflos Lügen und gefälschte Daten vorlegen durfte. Das Wort „Schönfärberei“ machte die Runde. Doch hätten gedungene Mörder den Gesuchten nicht unauffälliger ums Leben gebracht?

Der als pflichtbewusst und engagiert geschilderte Wissenschaftler muss in seinen letzten Tagen verzweifelt gewesen sein – gebrandmarkt als illoyaler Ausplauderer geheimer Informationen, von den Vorgesetzten im Stich gelassen und diziplinarische Sanktionen vor Augen. Sah er seinen Freitod als einzige Möglichkeit, das Gesicht zu wahren? Einiges spricht dafür, doch begründete Zweifel bleiben. Wie heißt er?




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Der gesuchte, lebensmüde Biowaffenexperte ist der britische Mikrobiologe und Uno-Waffeninspekteur David Kelly (1944-2003). Der Viren-Experte kontrollierte schon in den 1990er Jahren im Auftrag seines Landes und der Vereinten Nationen das russische sowie später mehrfach das vermutete irakische Biowaffenprogramm. 2003 enthüllte eine BBC-Reportage, dass die Regierung Blair ein Geheimdienst-Dossier über angebliche Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins übertrieben dargestellt hatte, um Kriegsskeptikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Als enttarnter Informant des Senders musste sich Kelly vor einem Untersuchungsausschuss rechtfertigen. 48 Stunden später fand man ihn tot in einem Wald unweit seines Hauses. Sein vorgeblicher und in einer offiziellen Untersuchung bestätigter Selbstmord wird bis heute vielfach angezweifelt.