Der gefeuerte Lebensretter

Winfried Köppelle


Editorial

Rätsel

(04.02.2013) Er spritzte seiner Patientin eine hochgiftige Chemikalie und verhinderte so ihren sicheren Tod. Zur Strafe entließ man ihn.

Schon Dinos hatten Krebs, vor 80 Millionen Jahren, genauso wie später Australopithecus und die alten Ägypter. Heute sind Malignome die zweithäufigste Todesursache, bald wohl die häufigste, dafür aber nicht mehr der obligatorische Schicksalsschlag von einst. Denn auch wenn es für Lungenkrebs- oder Pankreaskarzinom-Patienten noch wie blanker Hohn klingen mag: Krebs ist heilbar. In beinahe zwei von drei Fällen.

Als der Mann, den es zu erraten gilt, im nordostchinesischen „Land des Überflusses“ seine Koffer packte, um auf dem gegenüberliegenden Teil der Erdkugel weiterzustudieren und sich danach als Krankenhausarzt zu verdingen, war die Diagnose „Krebs“ noch gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Abgeschoben in die trostlosesten Abteilungen der Hospitäler, die Abstellkammern des Sensenmannes, dämmerten die Patienten ihrem Ende entgegen.

Ursprünglich hatte unser Mann nur am Nationalen Krebsforschungszentrum angeheuert, um der Einberufung zum Militär zu entgehen. Ein Zwischenfall im August 1956 änderte alles – und entfachte seinen beruflichen Ehrgeiz. Eine Patientin war eingeliefert worden, todgeweiht mit metastasiertem Gebärmuttertumor. Alle Bemühungen unseres chinesischen Docs waren vergebens; die Patientin verblutete binnen drei Stunden auf seinem Behandlungstisch. Wenig später lag schon die nächste Patientin vor ihm.

Editorial

Und da beschloss er, etwas wirklich Verrücktes zu wagen. Während seiner Studienzeit hatte er von Sydney Farber gehört, dem leidenschaftlichen Pionier der Chemotherapie, der 1947 in Boston leukämiekranken Kindern mit Folsäure-Antagonisten zusätzliche Lebenszeit verschaffte. Warum sollte ein Mittel, das passabel gegen Blutkrebs wirkt, nicht auch gegen solide Tumoren etwas ausrichten können?

Menschenversuch mit Teufelszeug

Fachlich versiertere Kollegen hätten angesichts der Naivität unseres Gesuchten die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Es gab tausend Gründe, derlei zu unterlassen. Doch diese Kollegen waren nicht vor Ort. Nur unser junger Krankenhausarzt hielt in der Krebsstation die Stellung, und er sah nur zwei Alternativen: Entweder seine Patientin stirbt einen qualvollen Tod, oder er benutzt sie als Versuchskaninchen und verabreicht ihr eine nie zuvor am Menschen erprobte, hochgiftige Substanz. Einst ersonnen von einem genialen indischen Bio­chemiker, erzeugt das Teufelszeug fürchterliche Übelkeit, dazu innere Blutungen, multiple Organschäden und Haarausfall.

Unser Mann rechnete nicht damit, seine Patientin noch einmal lebend wiederzusehen. Doch schon am nächsten Morgen ging es ihr besser – und nach vier Behandlungszyklen verschlug es ihm und seinen Kollegen die Sprache: Die Tumoren waren verschwunden. Noch nie zuvor hatten Ärzte es geschafft, einen metastasierenden, soliden Krebs derart zurückzudrängen.

Allein, die Geschichte hat kein richtiges Happy-End. Denn unser Doktor wollte den Feind mausetot sehen, ihn gänzlich vernichten und nicht nur für ein paar Monate zurückdrängen. Auch wenn der Tumor offensichtlich verschwunden und die Patientin genesen war – im Blut war seine Anwesenheit noch messbar. Und so setzte unser Mann seine Therapie fort, Zyklus um Zyklus, bis der Feind und all seine versteckten Hilfstruppen gänzlich vernichtet waren. Unwissentlich hatte unser Doktor den modernen Goldstandard der Krebsbehandlung erfunden: die „adjuvante“ Therapie.

Seine Vorgesetzten waren empört. Grausame und überflüssige Menschenversuche könne man nicht tolerieren; umgehend feuerte man ihn. Hätten sie doch nur erkannt, dass langfristig nur die Patientinnen rückfallfrei überlebten, die nach der Strategie unseres Mannes „gequält“ worden waren! Er hatte die erste chemotherapeutische Heilung krebskranker Erwachsener bewerkstelligt. Wie heißt er?




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Der gesuchte, entlassene Lebensretter ist der chinesisch-amerikanische Arzt Min Chiu Li (ca. 1930-1980). Li ging nach seinem Medizinstudium in China 1947 zur weiteren Ausbildung in die USA und blieb nach Maos erfolgreicher Revolution dort. 1956 schrieb er zusammen mit seinem Kollegen Roy Hertz Medizingeschichte: Indem die beiden todgeweihte Krebspatientinnen mit Methotrexat heilten, bewiesen sie, dass Chemotherapeutika selbst metastasierte, solide Tumore vernichten können. Li erkannte zudem die Wichtigkeit einer vollständigen Beseitigung der Tumorzellen („adjuvante Therapie“) und begründete die Ära der medikamentösen Krebsheilkunde. Weiterhin war er maßgeblich an der Entwicklung einer erfolgreichen Chemotherapie von Hodenkrebs beteiligt. 1972 erhielt er gemeinsam mit Hertz den Albert Lasker Medical Research Award.