Die medizinische Habilitation:
Vom professoralen Herrschaftsinstrument zum Jodeldiplom für Chefärzte

Ulrich Dirnagl


Editorial

Narr

(09.06.2021) Die medizinische Habilitation ist eine große Zeit- und Ressourcenverschwendung. Und noch schlimmer: Sie gaukelt wissenschaftlichen Professionalismus vor, wo keiner ist.

Vor nun bald zwanzig Jahren saß ich gemeinsam mit fünf anderen Leidensgenossen im Vorraum eines Hörsaals der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians Universität München. Drinnen tagte der hohe Fakultätsrat. Es galt für uns, die letzte Hürde zur Erlangung der Habilitation zu überwinden: Ein freier Vortrag ohne Hilfsmittel zu einem Thema, das nicht Gegenstand unserer Habilitationsschrift war.

Unmittelbar vor mir war ein gestandener Neurochirurg dran. Als solcher war er gewohnt, unter einem Mikroskop Aneurysmen an der Hirnbasis via Clipping abzuklemmen. Er tat dies routiniert, Leben oder Tod seiner Patienten lagen dabei in seinen Händen. Jetzt aber war er kaltschweißig, trotz Vorab-Einnahme eines Betablockers. Kurz bevor er an der Reihe war, wollte er sich aus dem Staub machen. Er sei zu aufgeregt, er könne weder klar denken noch sprechen. Es gelang mir, ihn in letzter Minute durch gutes Zureden von seiner Flucht abzubringen. Wankend bewegte er sich in den Hörsaal...

Editorial

Habilitanden wurden damals regelmäßig Opfer im Grabenkrieg der Ordinarien. Ihre Scharmützel trugen die Professoren mit harten Bandagen aus. Der Abschuss eines Habilitanden des Konkurrenten konnte einen Stellungsvorteil bringen – oder versprach einfach nur süße Rache für eine andernorts durch ebendiesen Konkurrenten erlittene Schmach. Doch meist wurde dann in der nächsten Sitzung mit gleicher Münze heimgezahlt, und ein weiterer Habilitand geriet so ins Sperrfeuer. Wir Habilitanden waren damit Spielbälle in der ganz normalen Konkurrenz der Professoren der Fakultät.

Der für mein Fach zuständige Ordinarius beruhigte mich in den Wochen vor meinem Vortrag damit, dass er nur noch mit dem Dekan Tennis spielen müsse – und dabei verlieren. Dann bräuchte ich mir keine Sorgen machen. Und tatsächlich ließ er den Dekan gewinnen – und seither besitze ich die Venia Legendi.

Wie recht hatte doch Ernst-Ludwig Winnacker, ehemals Präsident der DFG, als er die Habilitation im Jahr 2006 als „spätmittelalterliche Errungenschaft“ sowie als „Herrschaftsinstrument altgedienter Professoren“ bezeichnete. Der Vortrag vor der hohen Fakultät war somit ein letztes Initiationsritual vor dem Eintritt in den Club derer, die auf eine Berufung zum Professor hoffen dürfen.

Heute bin auch ich gewähltes Mitglied einer solchen Fakultät und urteile über Vorträge von Habilitanden. Vermutlich sind diese immer noch sehr aufgeregt, denn auf unerklärliche Weise hat das ganze Verfahren nach wie vor eine bedeutungsschwere akademische Aura. Außerdem wird man ja nochmals „geprüft“ – und das in einem Alter, in dem man normalerweise anderen Noten erteilt.

Von den Auseinandersetzungen der Ordinarien und dem dabei fließenden Habilitandenblut ist heute aber rein gar nichts übrig geblieben. Die Habilitanden benutzen Powerpoint und werden für ihre Vorträge gelobt, woraufhin allenfalls noch ein oder zwei artige Fragen folgen. Dann wird gratuliert.

Dabei ist es ziemlich egal, welche Qualität der Vortrag und die darin dargebotene Wissenschaft hatten. Entsprechend sitzt der Narr dann häufiger dabei und hat den Blick fremdschämend nach unten gerichtet. Immer wieder wird er dort nämlich Zeuge irrgeleiteter Studiendesigns, offenen Missbrauchs von Statistik, überinterpretierter Ergebnisse sowie meist vollständig fehlender Hinweise auf die Limitationen der vorgestellten Studien. Viele der Vorträge würde man Studenten nicht mal in einem ordentlichen Lab Meeting durchgehen lassen. Und das wissenschaftliche Niveau der Verteidigungen von Dissertationen ist in derselben Fakultät im Mittel deutlich höher.

Hat man sich erst einmal auf den Weg zur Habilitation gemacht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis man den Titel „Privatdozent“ auf der Visitenkarte hat. Keiner fällt durch, man muss (in Berlin) mindestens elf Originalartikel als Erst- oder Letztautor geschrieben haben, dazu Pflichtlehre absolviert und ein bisschen Didaktik geschnuppert haben. Dann lässt man das Ganze in eine schwarze Kladde binden. Davon kriegt die Familie ein Exemplar, ein paar kommen in den Bücherschrank – und der Rest wird in einem Karton gelagert, den man irgendwann entsorgen wird.

Versucht man ausländischen Kollegen klarzumachen, worum es sich bei der „Habil“ handelt, wird man meist nicht verstanden und ungläubig belächelt. Manch ein Habilitand führt den Titel „Privatdozent (PD)“ im internationalen Lebenslauf daher gleich als „Ph.D.“ Hat zwar nichts miteinander zu tun, klingt aber gut und erzeugt keine Rückfragen.

Die Habilitation wird seit Jahrzehnten aus all den genannten Gründen als spätmittelalterlicher akademischer Zopf kritisiert, den man abschneiden müsse. Die damalige SPD-Wissenschaftsministerin Edelgart Buhlman versuchte dies im Jahr 2002 sogar in der Tat. Allerdings wollte sie den Teufel „Habilitation“ mit dem Beelzebub „Juniorprofessur“ austreiben. Jetzt habilitieren bei uns die Juniorprofessoren! Das Projekt ist bekanntermaßen gescheitert.

Für die Medizin kann man auch ganz einfach sagen, warum: Zum einen natürlich, weil Ärzte als Juniorprofessoren sehr viel weniger verdienen als im normalen Ärztetarif. Zum anderen – und vermutlich noch wichtiger – weil Habilitierte auf dem Arbeitsmarkt der Chefärzte in nicht-universitären Krankenhäusern einen großen Konkurrenzvorteil haben. Wenn sie dann nach der Habil fünf Jahre durchgehalten und noch ein paar Artikel veröffentlicht haben, kriegen sie schließlich eine außerplanmäßige (apl.) Professur verliehen. Das bringt dem Krankenhausträger Nimbus und zusätzliche Patienten – und dem Chefarzt ein deutlich höheres Gehalt.

Ist das Ganze also lediglich harmlose akademische Folklore und skurrile Brauchtumspflege? Ich denke: Nein! Es handelt sich vielmehr um Zeit- und Ressourcenverschwendung großen Stils – und gaukelt wissenschaftlichen Professionalismus vor, wo oftmals keiner ist.

Viele Habilitanden forschen nämlich, um zu habilitieren. Das klingt zwar harmlos, ist es aber nicht. Denn wenn der Titelerwerb zum primären Ziel der Forschung wird, geht es nicht mehr vorrangig um Erkenntnisgewinn. Dann ist es egal, ob eine klinische Studie zu wenig Patienten untersucht, um relevante Aussagen zu generieren. Denn irgendein Paper wird daraus schon zu zimmern sein – genauso wie aus einer x-beliebigen tierexperimentellen Studie.

Folglich werden hier nicht nur Ressourcen verbraten, sondern auch potenziell Patienten in Studien rekrutiert, deren Ergebnisse niemanden weiterbringen. Oder Tiere für Experimente verbraucht, deren Resultate nicht reproduzierbar sind – und die im Zweifelsfall auch gar nicht der Mühe wert sind, repliziert zu werden. Dazu sitzen wir uns den Hintern platt in den zugehörigen Kommissionssitzungen. Die Habilitanden wiederum füllen Formulare aus und schreiben dicke Bücher, die keiner liest. Gutachter verfassen über diese Bücher Gutachten, die ebenfalls keiner liest – denn sie empfehlen ohnehin die Annahme.

In den Strudel solcher Habilitationsforschung geraten dann auch häufig mäßig gut angeleitete medizinische Doktoranden, die ihrerseits häufig nur für einen Titelerwerb forschen, nämlich den „Dr. med.“. Dies ist ein nicht minder problematisches Unterfangen, das sich der Narr bei Gelegenheit einmal separat vornehmen wird.

Natürlich gibt es hin und wieder auch ganz tolle Habilitationen. Aber wenn sie auf solider und relevanter Wissenschaft beruhen, bringt der Titel keinen Zusatzwert. Die Ergebnisse der Arbeit stehen für sich! Habilitationsschrift und Urkunde hingegen tragen zum darin erarbeiteten Erkenntnisgewinn rein gar nichts bei. Und zum Professor kann man auch mit „Habilitations-äquivalenter Leistung“ berufen werden – also mit einem ordentlichen wissenschaftlichen Œuvre sowie Lehrerfahrung.

Wofür braucht es also die Habilitation? Um es mit Loriots Frau Hoppenstedt zu sagen: „Da hab’ ich was in der Hand. Da hab’ ich was Eigenes. Da hab ich mein Jodeldiplom.“

Weiterführende Literatur und Links finden sich wie immer unter: http://dirnagl.com/lj