Editorial

Kommunismus infiltriert Proteomiks!

Proteinkonzentrationen egalisieren

Hubert Rehm


Was hat Erich Honeckers untergegangenes Paradies der Werktätigen und die rückwärts gelesene Parole der französischen Revolution mit der "Verarmung" von Proteinen zu tun?

Es kommt selten vor, dass wissenschaftliche Artikel literarischen Witz zeigen. Eine Ausnahme ist der Übersichtsartikel von Pier Giorgio Righetti in Proteomics (Proteomics 2006, 6: 3980-92). Ein Auszug aus dem Abstract: „No proteome can be considered democratic, but rather oligarchic, since a few proteins dominate the landscape and often obliterate the signal of the rare ones. This is the reason why most scientists lament that, in proteome analysis, the same set of abundant proteins is seen again and again. A host of pre-fractionation techniques have been described, but all of them, one way or another, are besieged by problems, in that they are based on a depletion principle , i.e. getting rid of the unwanted species. Yet democracy calls not for killing the enemy, but for giving equal rights to all people.

Righetti spricht das Spreiz- und Deckproblem an, die Tatsache, dass in den meisten Zellextrakten oder Körperflüssigkeiten (Serum, Urin, Hirnwasser) die Konzentrationen der Protein- oder Peptidkomponenten über zehn (!) Größenordnungen spreizen. So liegt die Konzentration von Albumin im Serum zwischen 36-50 g/l, die von ACTH und Calcitonin unter 100 ng/l, die von Interleukin-6 und Kathepsin unter 10 ng/l. Keine Färbemethode ist über solche Bereiche linear und die Unmassen an Albumin oder Immunglobulinen erschweren den Nachweis seltener Proteinspezies. In 2D-Gelen beispielsweise decken ihre fetten Blobs alles zu, was in der Nachbarschaft sitzt. Albumin macht selbst im Massenspektrometer Ärger, da es die Signale anderer Proteine unterdrückt.

Righetti geht dieses Problem an, indem er die Konzentrationen der Proteine­ egalisiert: Denen mit den großen Konzentrationen wird genommen, jenen mit den kleinen Konzentrationen wird alles gelassen. Righettis Methode ist also eine Art Kommunismus, der die Reichen schröpft, so dass zum Schluss alle auf einem ähnlich niedrigen Armutsniveau sitzen: So wie damals in der DDR. Eine derart egalisierte Proteingesellschaft lässt sich leichter analysieren, was vorher unsichtbar war, bekommt plötzlich Gewicht, Farbe oder Fluoreszenz.


Gleichmacherei

Righettis Methode gründet auf der Idee, dass jedes Protein an irgendetwas bindet. Man muss also nur für jedes Protein einen Liganden finden und alle Liganden an eine Säule koppeln. In der Säule sitzen dann für jedes Protein eine bestimmte Anzahl Liganden, für Albumin zum Beispiel 100.000, für Ferritin meinetwegen auch 100.000. Gibt man Serum über die Säule binden 100.000 Albumin Moleküle und 100.000 Ferritin Moleküle. Wäscht und eluiert man die Säule finden sich im Eluat 100.000 Albumin Moleküle und 100.000 Ferritin Moleküle. Lag das Verhältnis der beiden Moleküle im Serum bei 104 :1 so liegt es im Eluat bei 1:1. Keines der Proteine ging verloren, aber ihre Konzentrationen wurden „egalisiert“. Das Prinzip ist also die von hinten gelesene Parole der französischen Revolution: Fraternité, Égalité, Liberté.

Wie aber findet man für jedes der vielen tausend Proteine in biologischen Flüssigkeiten einen Liganden? Indem man gar nicht erst danach sucht. Stattdessen stellt man mit kombinatorischen Techniken Millionen verschiedener Hexapeptide her und koppelt sie an eine Matrix. Wenn mich meine Mathematik-Kenntnisse nicht im Stich gelassen haben, gibt es 206 verschiedene Hexapeptide, also 64 Millionen. Die Hoffnung ist: Unter diesen Millionen möglicher Partner wird jede Proteinspezies einen Liebhaber finden: Jedes Töpfchen seinen Deckel. Man gießt die Matrix in eine Säule, und die Grundlage der obigen Technik ist gegeben.


Marketing-Tricks

Warum gerade Hexapeptide? Egisto Boschetti und Pier Righetti (J. Proteomics 2008, 71: 255-64) haben systematisch Peptidlängen, angefangen und aufsteigend von den Aminosäuren, ausprobiert, und kamen zu dem Schluss, dass Hexapeptide ausreichen, um fast alle Proteine eines Extraktes abzufangen. Die Methode wird inzwischen von Bio-Rad unter dem Namen „ProteoMiner Protein Enrichment Kit“ vertrieben. Der Name ist irreführend. In Wirklichkeit handelt es sich um einen Verarmungs-Kit, aber das klingt natürlich nicht so gut. Es ist interessant, wie Marketingstrategen unterschiedlichster Systeme unter gleichem Druck zu ähnlichen Lösungen greifen. Die DDR hatte sich auch als „Paradies der Werktätigen“ dargestellt.

Dem Übersichtsartikel von Righetti nach zu urteilen, besteht die Matrix aus porösen Poly(hydroxymethylacrylat)-Kügelchen mit einem Durchmesser von 70 µm, deren Hexapeptiddichte bei 40-60 µMol/ml feuchtem Kügelchenvolumen liegt. Die Bindung von Proteinen an das Matrixgerüst selbst soll gegen Null gehen. Eluiert wird zum Beispiel mit 2M Thioharnstoff, 7M Harnstoff, 4 % Chaps. Das Eluat, das die denaturierten Proteine enthält, kann nach Reduktion direkt auf ein 2D-Gel aufgetragen werden.

Wie alle Methoden, so hat auch diese Schwächen. So könnten die Peptide auf der Matrix von Peptidasen abgebaut werden. Es wird auch Proteine geben, die von den Hexapeptiden nicht gebunden werden; Righetti schätzt sie auf drei bis sieben Prozent der Gesamtpopulation an Proteinen. Auch scheinen manche Proteine bevorzugt adsorbiert zu werden, so Apolipoprotein A1. Schließlich könnte es Proteine geben, die so fest an die Säule binden, dass sie selbst von 2M Thioharnstoff, 7M Harnstoff, 4 % Chaps nicht mehr abgelöst werden können. Für diesen Fall empfiehlt Righetti die Säule mit 6M Guanidin-HCl, pH 6, zu waschen. Das soll alle Bindungen aufbrechen und alle Proteine denaturieren. Allerdings müssen Sie vor einer Weiterverarbeitung der Proteine das Guanidin-HCl loswerden, denn es stört in so gut wie allen Techniken. Das ist lästig, denn bei der Dialyse oder Gelfiltration geht mit Sicherheit das eine oder andere Protein verloren. Zudem wird die Probe verdünnt. Nach Righetti (Proteomics 2006, 6: 3980-3992) kleben übrigens selbst in Gegenwart von 6M Guanidin-HCl, pH 6, noch Proteine an der Säule, denn aus damit gewaschenen Säulen lässt sich mit heissem SDS immer noch etwas herunterholen.

Überlegene Methode

Was bringt die Hexapeptid-Egalisierungs-Methode? Egalisierte Proben erzeugen mehr Gipfel im Massenspektrometer. Bis zu 50 % mehr bei Plasmaproben, bis zu 400 % mehr bei Urinproben. Auch in 2D-Gelen gibt die Hexapeptid-Egalisierung mehr Flecken: mit Serum und drei Elutionsschritten beispielsweise 800 Flecken verglichen zu 115 in Kontrollen.

Damit scheint diese Methode den klassischen Vorfraktionierungsmethoden, wie präparative isoelektrische Fokussierung in Sephadex, Vielkammer-isoelektrische Fokussierung und Dauerflusselektrophorese überlegen zu sein. Auch Depletionstechniken, das heißt Entfernen von Albumin mit Cibacron Blau und Immunglobulinen mit Immuno-Affinitätssäulen, scheinen Righettis Hexapeptidsäulen nicht das Wasser reichen zu können. Auf Cibacron Blau beziehungsweise Immuno-Affinitätssäulen bleiben zudem auch andere Proteine kleben als nur die unerwünschten und die fehlen dann im Proteom. Schließlich lässt sich die Technik verwenden, um aus gereinigten Proteinproben die letzten Verunreinigungen herauszufiltern. In diesem Fall ist natürlich der Durchlauf der Säule interessant.

Urin kann bekanntlich nicht-invasiv gewonnen werden. Daher glaubt Righetti, dass diese Körperflüssigkeit in Zukunft zum Nachweis von Biomarkern dienen wird und die Egalisierungstechnik sich hervorragend zur Untersuchung von Urinproben eigne. Die Gleichmacher-Wirkung der Technik steht dem Biomarker-Finden zwar scheinbar entgegen, doch schiebt sie nur das Suchniveau herunter auf niedrige Konzentrationen, das heißt seltenere Proteine. Bei denen versagt die Gleichmacherei, weil sie ihre Bindungsstellen auf der Säule nicht mehr absättigen können. Auch Biomarker mit Nulleffekt, die also nur in Kontrolle oder Probe exprimiert werden, werden noch erfasst: Was nicht vorhanden ist, kann nicht zurückgehalten werden. In der Tat setzen Sihlbom et al. (J. Proteome Res. 2008, 7: 4191-8) die Egalisierungs-Methode bei der Suche nach Biomarkern ein. Bisher scheint das allerdings nicht geklappt zu haben, ich habe jedenfalls kein Paper gefunden, das einen neuen Biomarker für eine Krankheit beschreibt – mit oder ohne Hexapeptid- Säule.





Letzte Änderungen: 09.09.2009