Editorial

Von oben nach unten

Top-Down-Proteomics

Thorsten Lieke


Neue Ideen und immer schnellere, höher auflösende und genauere Massenspektrometer revolutionieren derzeit die Proteomik.

Will man die einzelnen Proteine eines Proteoms identifizieren, kann man sich der Sache grundsätzlich auf zwei Arten nähern: mit einer Bottom-Up- oder einer Top-Down-Analyse. Bei ersterer arbeitet man sich ausgehend von den Details zu einem zusammenhängenden Gesamtbild vor. Diese Herangehensweise bevorzugen derzeit die meisten Proteomiker. Bei der Bottom-Up Analyse werden die Proteine zunächst enzymatisch verdaut. Die hieraus resultierenden Fragmente trennt man über Elektrophorese und Chromatographie und analysiert sie dann im Massenspektrometer. Die Sequenzen der Fragmente vergleicht man anschließend mit Sequenzen, die bereits in Protein-Datenbanken gespeichert sind, und hofft sie dann einzelnen Proteinen zuordnen zu können. Auf diese Weise kann man mit hoher Genauigkeit auf einen Schlag sehr viele Proteine identifizieren. Der Nachteil ist aber, dass durch die Fragmentierung der Proteine vor der Sequenzanalyse Isoformen oder posttranskriptional und posttranslational modifizierte Proteine wie alternative Spleißformen oder phosphorylierte Proteine unter den Tisch fallen und nicht erkannt werden.

Umgekehrter Weg

Bei der Top-Down-Analyse beschreitet man genau den umgekehrten Weg und tastet sich vom großen Ganzen (dem kompletten Proteom) zu den Details (den einzelnen Proteinen) vor. Dabei müssen die intakten Proteinmoleküle Schritt für Schritt getrennt werden, bevor sie im Massenspektrometer analysiert werden können. Genau darin lag bisher das Problem: bei allen Top-Down-Methoden gingen im Verlauf der Reinigung und Trennung inakzeptabel viele Proteine verloren. Statt eines Proteoms erhielt man dann höchstens noch ein Proteömchen – das im Gegensatz zur Bottom-Up-Analyse aber auch Spleißvarianten und modifizierte Proteine­ enthielt. Um diesen entscheidenden Vorteil der Top-Down-Analyse nutzen zu können, musste man einen Weg finden, mit dem sich die Proteinverluste verhindern ließen. Offensichtlich hat die Gruppe von Neil Kelleher, die an der amerikanischen Northwestern University an Methoden zur Top-Down-Proteomik arbeitet diesen jetzt entdeckt (Tran et al., Nature, 2012, 480, 254-8).


Drei Trennstufen

Das Top-Down-Verfahren der Amerikaner basiert auf einer dreistufigen Auftrennung an die sich die Analyse im Massenspektrometer anschließt. Der erste Schritt ist eine isolelektrische Fokussierung (IEF). Dazu haben Kelleher und sein Mitarbeiter John Tran eine IEF-Kammer entwickelt, die aus acht hintereinander geschalteten Becken besteht, die durch einen kleinen Kanal miteinander verbunden sind. Jedes Becken ist mit einer Lösung gefüllt, die einen definierten pH-Wert hat. Proteine, die bei dem jeweiligen pH-Wert ungeladen, also isoelektrisch sind, hören auf im elektrischen Feld zu wandern und verbleiben im entsprechenden Becken. Die anderen Proteine ziehen weiter bis auch sie ihren isoelektrischen Punkt bei einem bestimmten pH-Wert erreicht haben. Dies dauert in der Regel etwa 90 Minuten.


Fallen-Elektrophorese

Anschließend werden die Lösungen aus dem Becken entnommen und die enthaltenen Moleküle im zweiten Schritt grob nach ihrer Größe getrennt. Dazu denaturiert man die Proteine und versieht sie durch Sodiumdodecylsulfat (SDS) mit einer gleichmäßigen negativen Ladung. Nachfolgend trennt man sie mit einer GELFrE-Elektrophorese (Gel-Eluted Liquid­ Fraction Entrapment Electrophoresis). Hinter diesem Wortungetüm verbirgt sich ein eigentlich simples Elektrophoreseverfahren. Zwischen Kathode und Anode der Elektrophorese-Apparatur befindet sich eine Kammer mit acht oder neun voneinander getrennten Spuren. Jede Spur ist mit einer gelartigen Flüssigkeit gefüllt, die wie bei einer normalen Gelelektrophorese in ein Sammelgel und ein Trenngel aufgeteilt ist. Die Proteine reihen sich im Sammelgel ihrer Größe nach auf, die kleinen vorneweg, die großen etwas behäbiger wandernden Proteine hintendrein.


FT-ICR-Massenspektrometer
Keine Angst, den Raum haben nicht die hinter dem Edelstahlzylinder verborgenen supraleitenden Magneten der ICR-Zelle gekrümmt. Das Bild das Neil Kellehers FT-ICR-Massenspektrometer zeigt, wurde mit einem Fischaugenobjektiv geschossen.


Proteinspray

Nach Größe geordnet wie Orgelpfeifen treffen sie an der Grenze zum Trenngel ein und werden in diesem weiter aufgetrennt. Nach dem Austritt aus dem Trenngel „fallen“ sie schließlich in eine Entnahmekammer. In regelmäßigen Abständen unterbricht man den Stromfluss und entnimmt die flüssigen Fraktionen. Da die Kammer achtspurig ist, kann man die aus der IEF gewonnenen Fraktionen parallel auftrennen. Nach diesen beiden Schritten enthalten die einzelnen Fraktionen eine überschaubare Anzahl unterschiedlicher Proteine.

Im dritten Schritt trennt man die Proteine zunächst mit einer Flüssigkeitschromatographie weiter auf. Anschließend ionisiert man die Proteine mit dem Elektrospray- oder Nanoelektrospray-Verfahren und jagt sie in ein Fourier Transform-Ionenzyklotron-Resonanz- (FT-ICR) oder ein Orbitrap-Massenspektrometer. Orbitrap- und FT-ICR-Massenspektrometer sind nicht nur wegen ihrer unerreichten Auflösung die bevorzugten Massenspektrometer von Top-Down-Proteomikern. Genauso wichtig ist, dass die analysierten Proteine in den beiden Gerätetypen intakt bleiben.

Monster-Magnetfelder

Herzstück eines FT-ICR-Massenspektrometers ist die tonnenschwere zylindrische ICR-Zelle, in der supraleitende Magnete extrem starke Magnetfelder von bis zu 15 Tesla erzeugen. Die ionisierten Proteine treten durch eine kleine Öffnung in den ICR-Zylinder ein und werden durch das Magnetfeld auf einer Kreisbahn eingefangen. Auf dem Zylinder angebrachte Anregungselektroden erzeugen Radio­wellen, die die ionisierten Proteine beschleunigen und je nach Masse auf eine veränderte Kreisbahn zwingen. Die ionisierten ­Proteine erzeugen dabei, wie jede elektrische Ladung in einem Magnetfeld, eine so genannte Radiofrequenzstrahlung, die eine auf dem ICR-Zylinder angebrachte Empfängerelektrode misst. Über eine Fouriertransformation lässt sich die detektierte Strahlung schließlich in ein äußerst präzises Massenspektrum übersetzen.


Imponierende Bilanz

Bei Orbitrap-Massenspektrometern werden die ionisierten Proteine statt in einem Magnetfeld in einem spindelförmigen elektrostatischen Feld eingefangen, das als Ionenfalle dient. Die hierbei auftretenden Schwingungen der Ionen werden durch entsprechende Sensoren registriert und wie bei der FT-ICR-MS über eine ­Fourier-Transformation in ein Massenspektrum umgewandelt.

Die verbesserte Auftrennung nach Tran und Kelleher minimiert nicht nur Proteinverluste. Auch die Struktur der Proteine bleibt während des gesamten Prozesses inklusive der Analyse im Massenspektrometer erhalten. Die Resultate, die die Gruppe bei einem Testlauf mit HeLa Zellen erzielte, können sich sehen lassen. So identifizierte sie etwas mehr als 1000 Genprodukte, die sich durch posttranslationale Modifikationen und Spleißvarianten in mehr als 3000 Proteinspezies aufsplittete. Bei über 200 Proteinen konnte Kellehers Gruppe unterscheiden, ob die Proteine einfach, zweifach oder dreifach methyliert vorlagen. Zusätzlich wiesen sie 650 Phophorylierungen und 540 Acetylierungen nach.


1:0 für Top-Down

Die Methode ist also bestens dafür geeignet Isoformen von Proteinen nachzuweisen. In der Tat könnte die Top-Down-Methode von Kelleher eine neue Ära in der Proteom-Analyse einleuten. Denn letztlich ist die biologische Funktion von (zumeist modifizierten) Proteinen entscheidend, wenn man die Biologie in der Zelle oder in einem Organismus verstehen will. Und da steht es neuerdings eins zu null für die Top-Down-Analyse.




Letzte Änderungen: 26.03.2012