Eine Frage des Geruchs

Michael Bell


Editorial

(13.05.2022) REGENSBURG: Der Transkriptionsfaktor Doublesex reguliert die geschlechtsspezifische Entwicklung in Insekten. Neue Versuche in parasitischen Wespen zeigen: Reduziert man ihn, wirbelt das die Pheromone durcheinander – und lässt Männchen zu Weibchen werden.

Das Sexualverhalten von Tieren treibt sonderbare Blüten. Man stelle sich zum Beispiel vor, ein lediger, heterosexueller Mann im besten Reproduktionsalter betritt am Samstagabend ein angesagtes Etablissement. Der kontaktfreudige Single verliert keine Zeit und fahndet augenblicklich nach attraktiven Gesprächspartnerinnen. Dafür durchquert er den ganzen Raum, doch anstatt sich auf seine Augen zu verlassen, nimmt er zuerst den Duft aller Anwesenden auf. Sobald es nach Vanille riecht, ist für ihn klar: Hier muss eine Frau stehen. Schnell folgt die Ernüchterung: Stimme und Bartwuchs sind wenig weiblich – offensichtlich ein Irrtum. Trotz Vanille-Duft. Für den irritierten Mann kommt es noch dicker: Viele der Anwesenden, die nach Moschus riechen, also nach Mann, scheinen in Wahrheit Frauen zu sein. Von der Geruchslage völlig überfordert, wird die Frauensuche zur Lotterie und der Abend für den erwartungsfrohen Mann zum Desaster.

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Geschlechtsidentitätskrise bei der parasitierenden Wespenart Nasonia vitripennis.

Editorial

Die Geschichte klingt völlig absurd. Und sie ist es auch, zumindest nach menschlichen Maßstäben. Betrachtet man aber Insekten, sieht die Sache ganz anders aus. Dort hängen Erfolg und Misserfolg der Paarung oft allein davon ab, welchen Duft die Artgenossen verströmen. Und noch mehr: Der Entomologe und Biochemiker Joachim Ruther von der Universität Regensburg hat mit Kollegen untersucht, wie fundamental Gerüche für die Wahrnehmung von potenziellen Sexualpartnern bei parasitischen Wespen sind (Proc. R. Soc. B, doi: 10.1098/rspb.2021.2002). Das Ergebnis: Ein bestimmtes Duftmolekül kann dafür sorgen, dass ein Wespenmännchen plötzlich für alle anderen zum Weibchen wird – und umgekehrt. Da staunt selbst Co-Autor Ruther: „Man muss sich das klarmachen: Mit nur einer chemischen Substanz können wir die sexuelle Identität der Wespen komplett umdrehen. Das ist einfach nur verblüffend.“ Doch wie ist das möglich? Ist das Geschlecht bei den Wespen also nur eine Frage des Geruchs?

Erfolgreicher Tapetenwechsel

Als promovierter Lebensmittelchemiker standen für den Regensburger Forscher lange Zeit Aromastoffe in Nahrungsmitteln im Fokus. Das änderte sich, als Ruther 1995 als Postdoc ans Institut für Zoologie der Freien Universität Berlin wechselte. Seitdem nimmt er die Kommunikation von Insekten unter die Lupe. Ein wagemutiger Sprung ins kalte Wasser, der auch hätte schiefgehen können. Ruther wiegelt ab: „Die Umstellung war gar nicht so groß. In meinem neuen Labor stand damals die chemische Analysemethode der gekoppelten Gaschromatographie/Massenspektrometrie, kurz GC/MS, hoch im Kurs, auf die ich mich in der Promotion schon spezialisiert hatte. Außerdem sind Aromastoffe von Lebensmitteln und chemische Botenstoffe von Insekten strukturell ähnlich. Ich habe im Grunde nur das Empfängerorgan gewechselt: von der menschlichen Nase zur Insektenantenne.“

Ruther, inzwischen Professor in Regensburg, erforscht, wie Insekten dank chemischer Lockstoffe mit Artgenossen kommunizieren und welche Rolle diese Pheromone beim Paarungsverhalten parasitischer Wespen spielen. Laut Ruther eine echte Marktlücke. Während man das Sexualverhalten der Insekten bereits eingehend studiert hatte, kümmerten sich wenige Gruppen um die Biochemie im Hintergrund. „Geruch ist für Insekten ein Schlüsselsinn, gerade bei der Fortpflanzung. Pheromone sind überall beteiligt, von der Partnerfindung bis zur eigentlichen Kopulation“, sagt Ruther.

Mit der bereits erwähnten GC/MS-Technik begann der Quereinsteiger erfolgreich Licht ins Dunkel zu bringen. Die Methode erlaubt es, komplexe Duftstoffgemische mit oft hunderten Einzelkomponenten präzise in ihre Bestandteile zu zerlegen. Als Modellorganismus wählte Ruther schon früh die parasitische Wespenart Nasonia vitripennis. Der Forscher erklärt, warum: „Es gibt eine Reihe von Vorzügen. Nasonia vitripennis ist anspruchslos in der Zucht und hat eine kurze Generationszeit. Das Genom ist sequenziert, man kann sie daher molekulargenetisch mit CRISPR-Cas9 oder RNA-Interferenz gut manipulieren. Wichtig für uns: Das Sexualverhalten ist sehr charakteristisch und eignet sich super für vergleichende Analysen.“ Bis heute ist Ruther der Spezies treu geblieben.

Männchen ohne Anziehungskraft

In der aktuellen Studie nutzte Ruthers Team genetisch veränderte Nasonia-Wespen, die aus einer Gruppe von der Universität Wageningen in den Niederlanden stammten. In den Tieren war das Gen Doublesex mittels RNA-Interferenz stillgelegt. Das dazugehörige Protein Doublesex stellt als Transkriptionsfaktor sicher, dass sich geschlechtsspezifische Merkmale im Tier ausprägen. Das betrifft etwa die Morphologie des zentralen Nervensystems, aber auch das Sexualverhalten. Auf welchen Signalwegen Doublesex die Paarung der Wespen beeinflusst und ob bestimmte Pheromone von Doublesex abhängen, ist bislang unerforscht.

Ruthers Team untersuchte zunächst in den Wespenmännchen, ob der Verlust von Doublesex das sogenannte Long-Range Sex Pheromone beeinflusste, ein zentraler Lockstoff für Weibchen, der aus lediglich drei Komponenten besteht. Das Ergebnis der GC/MS-Analyse war überraschend deutlich: Alle drei Komponenten waren fast komplett verschwunden, das Pheromon praktisch nicht mehr vorhanden. Die Folgen für die Doublesex-armen Männchen sind fatal, wie Verhaltensexperimente der niederländischen Kollegen mit einem Olfaktometer zeigten. Hierbei wurden den Nasonia-Weibchen Pheromone verschiedener Artgenossen angeboten. Das Ergebnis: Die Doublesex-armen Männchen waren viel weniger attraktiv als Wildtyp-Männchen und nicht einmal anziehender als andere Weibchen. „Wenn wir Doublesex ausschalten, sind die Wespen also nicht mehr fähig Weibchen anzulocken. Das erschwert die Fortpflanzung natürlich massiv“, resümiert Ruther.

Neben der Partnersuche hängt auch die Partnererkennung von Pheromonen ab. Die aus gut hundert Molekülen bestehenden cuticulären Kohlenwasserstoffe (CHCs) befinden sich, wie der Name sagt, auf der Cuticula der Wespen beider Geschlechter und wirken nur auf kurze Distanz. Frühere Studien von Ruthers Gruppe zeigten, dass die CHCs je nach Geschlecht anders zusammengesetzt sind. Insbesondere ist der Anteil bestimmter Alkene in den CHCs von Männchen höher als in denen von Weibchen.

Verweiblichte Wespen

Die chemische Analyse der Doublesex-armen Männchen enthüllte nun, dass vier CHC-Alkene herunterreguliert waren und den Werten von weiblichen CHCs ähnelten. Ein Verhaltenstest sollte klären, ob die CHC-Alkene das Sexualverhalten der Tiere beeinflussen. Die Forscher platzierten Wespenleichen von Doublesex-armen oder Wildtyp-Männchen in einer Kammer und beobachteten, ob ein anwesendes Männchen versuchen würde die Kadaver zu begatten. Ruther erläutert: „Nasonia-Männchen zeigen auch bei toten Weibchen ihr normales Paarungsverhalten und versuchen sogar, die Kopulation einzuleiten. Klingt makaber, aber so können wir direkt sehen, welchen Effekt die CHCs auf den Paarungswillen der Männchen haben.“

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Da hat selbst Joachim Ruther gestaunt: Ein bestimmtes Duftmolekül allein sorgt dafür, dass parasitierende Wespenmännchen für ihre Artgenossen zu Weibchen werden. Fotos (2): Ruther

Gut die Hälfte der Testtiere versuchten die toten Doublesex-armen Männchen zu begatten. Offenbar gaukelte das CHC-Profil der Kadaver ihnen vor, es handele sich um paarungswillige Weibchen. Sobald die Forscher nun aber eines der fehlenden Alkene, (Z)-9-Hentriaconten (Z9C31), auf die Cuticula der Doublesex-armen Männchen auftrugen, gab es keine Kopulationsversuche mehr. Es musste eine direkte Verbindung zwischen Double­sex-Knockdown, reduziertem Alken und der „Verweiblichung“ der Wespen geben.

Das Ganze klappte auch umgekehrt. Behandelte das Team tote Wespenweibchen mit Z9C31, startete nur noch die Hälfte der Testmännchen Begattungsversuche, bei den unbehandelten Weibchen waren es fast alle. Für Ruther eine der Stärken des Papers, wie er betont: „CHC-Pheromone bestehen aus vielen Komponenten, die zusammenspielen. Das macht es wahnsinnig schwer zu bestimmen, welche Moleküle entscheidend sind. Hier ist uns genau das gelungen. Um ehrlich zu sein, war ich selbst überrascht, dass ein Molekül aus hunderten allein darüber entscheiden kann, welches Geschlecht von Artgenossen wahrgenommen wird.“ Wie beim eingangs erwähnten Single mit den Vanille- und Moschusdüften verlassen sich die Wespenmännchen bei der Partnerwahl voll und ganz auf ihren Geruchssinn.

Neue Spur für ein altes Rätsel

Zu guter Letzt untersuchten die Wissenschaftler, wie sich die Doublesex-armen Männchen selbst bei der Partnersuche schlugen. Dafür platzierten Ruthers Kollegen sie mit je einem Nasonia-Weibchen in einem Glasrohr und warteten ab. Das Resultat: Die Doublesex-armen Tiere halten sich für richtige Männchen und zeigen die ganze Palette des eigentümlichen Nasonia-Balzverhaltens. Sie springen auf den Rücken der Weibchen, klammern sich dort fest, nicken anschließend mit ihrem Kopf und berühren mit ihrer Mundöffnung die Antennen der Weibchen. Im Normalfall sollte das Weibchen nun die Antennen senken, was die Kopulationsbereitschaft signalisiert. Doch genau darauf warteten Doublesex-arme Männchen vergeblich. Das Weibchen blockt im letzten Moment ab und die Kopulation fällt aus.

Das Phänomen ist von früheren Versuchen bekannt, in denen Männchen die Mundöffnung verklebt wurde. Seitdem ist klar, dass ein orales Pheromon der Männchen mit darüber entscheidet, ob die Paarung stattfindet. Trotz vieler Anstrengungen ist es bislang jedoch nicht gelungen, das Nasonia-Aphrodisiakum zu identifizieren. Die Erkenntnisse der Doublesex-armen Männchen können eine Suche vorantreiben, die Ruther wie folgt beschreibt: „Ich hatte eigentlich gedacht, dass ich die Entschlüsselung nicht mehr erlebe. Es ist einfach experimentell unglaublich schwierig, dieses Pheromon dingfest zu machen. Viele haben es schon versucht, inklusive mir. Doch jetzt haben wir einen neuen Ansatzpunkt.“ Vergleichende Untersuchungen von Doublesex-armen und Wildtyp-Männchen könnten letztlich zum Erfolg führen. Doch das ist noch Zukunftsmusik.

Bis dahin lässt sich festhalten, dass Doublesex mindestens drei Pheromone in Nasonia entscheidend mitreguliert und so die sexuelle Kommunikation der Wespen prägt. Getreu dem Motto: Die Chemie muss stimmen.