Editorial

Nachts sehen alle Katzen grau schärfer

Juliet Merz


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Foto: Pixabay/Ihtar

(06.04.2020) DRESDEN: Das Auge nachtaktiver Säugetiere ist hervorragend an das Sehen in Dunkelheit angepasst. Ein Unterschied zu ihren tagaktiven „Klassenkameraden“: Die DNA im Zellkern der Stäbchenzellen hat eine ungewöhnliche Anordnung.

In der Cartoon-Serie „Tom und Jerry“ gibt es nur wenige Folgen, in der die Katze Tom die alles andere als unschuldige Hausmaus Jerry bei Nacht jagt. Und das, obwohl die entsprechenden Tierarten im wahren Leben den Tag meist lieber verschlafen, um dann im Schutz der Dunkelheit auf Streifzug zu gehen. Damit beim nächtlichen Katz-und-Maus-Spiel niemand mit unfairen Mitteln trumpft, haben sich im Zuge der Evolution die Augen nachtaktiver Säugetiere gleichermaßen perfekt an die Dunkelheit angepasst.

Ein bei Nacht gut erkennbares Beispiel ist das Tapetum lucidum, eine reflektierende Zellschicht unmittelbar hinter der Retina. Sie ist dafür verantwortlich, dass die von einer Lichtquelle angestrahlten Augen nachtaktiver Tiere regelrecht zurückleuchten. Dank ihrer Reflexion erreicht mehr Licht die Photorezeptoren von beispielsweise Katzen und Hunden.

Moritz Kreysing und sein Team am Max-Planck-Institut für Molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden interessieren sich noch für eine andere Besonderheit der Augen nachtaktiver Säugetiere: Ihre Stäbchenzellen, die für das Nacht-Sehen zuständig sind, verwundern mit einer ganz außergewöhnlichen DNA-Anordnung im Nucleus. Das Erbgut ist dort viel kompakter organisiert als bei den tagaktiven Kollegen.

Dieses Phänomen hatten in der Vergangenheit bereits mehrere Studiengruppen beobachtet. Eine Pionierin, welche die ungewöhnliche DNA-Organisation der Photorezeptorzellen mitentdeckte, war die Biologin Irina Solovei vom Biozentrum der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Gemeinsam mit Kreysing und weiteren Autoren konnte sie 2009 zeigen, dass die Anordnung des Chromatins in den Zellkernen nachtaktiver Säuger invertiert ist (Cell 137: 356-8).

Ungewöhnlich angeordnet

Wie das genau aussieht, beschreibt Kreysing so: „Das Erbgut ist je nach Zelltyp an verschiedenen Stellen unterschiedlich dicht im Zellkern gepackt. In den Photorezeptoren tagaktiver Säugetiere befindet sich im Zentrum des Zellkerns das eher aufgelockerte Euchromatin. Das verdichtete Heterochromatin hingegen ist über ein Molekül namens Lamin B Receptor (LBR) mit der Zellkernmembran verbunden.“ Dadurch bilden sich in den Stäbchenzellen mehrere kleine Chromozentren, die durch ihre Anordnung dafür sorgen, dass in der Mitte des Zellkerns vermehrt Euchromatin sitzt. Bei nachtaktiven Säugetieren ist das anders. „In beispielsweise der Maus ist LBR herunterreguliert, das Heterochromatin wird nicht mehr an der äußeren Zellkernmembran festgehalten. Dadurch entsteht mittig ein einzelnes großes Chromozentrum, um das sich Heterochromatin anordnet. Das locker gepackte Euchromatin bildet schließlich einen großen Ring ganz außen in der Peripherie des Zellkerns.“ Besonders interessant: Die Invertierung erfolgt im Laufe der Entwicklung nachtaktiver Tiere. So haben etwa Mausjungen noch die gleiche Chromatin-Anordnung in den Stäbchen-Zellkernen wie tagaktive Säuger.

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Schau mir in die Augen: Moritz Kreysing wirft lieber einen Blick in die Augen nachtaktiver Säugetiere. Foto: MPI-CBG

Doch inwiefern sich diese Anpassung auf das Sehvermögen der Tiere auswirkt, war bislang völlig unbekannt. Zu Letzterem gab es dennoch eine Handvoll Theorien: „Man könnte annehmen, die Anordnung des Chromatins erlaube, dass mehr Licht durch die Retina gelangt“, macht Kreysing einen Erklärungsversuch. Zur Erinnerung: Die Retina mit den Photorezeptoren sitzt im hinteren Teil des Auges quasi falsch herum. Das Licht muss die nur bedingt transparente Netzhaut durchqueren, um vom äußeren Zellsegment wahrgenommen zu werden. Der Zellinhalt und damit auch die Zellkerne sind dem Licht im Weg.

„Es war allerdings auch vorstellbar, dass die Invertierung zu einer besseren Auflösung führt. Also, dass ein auf die Rückseite der Retina projizierter Punkt schärfer erscheint.“ Doch beide Überlegungen erwiesen sich schlussendlich als falsch, wie Kreysing, Solovei und sieben andere Autoren in einer kürzlich erschienenen eLife-Publikation beweisen konnten (doi: 10.7554/eLife.49542). „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Invertierung des Chromatins bei nachtaktiven Säugetieren das Kontrast-Sehverhalten verbessert“, klärt Kreysing auf. „Sie können es sich so vorstellen, als würden Sie im Freien auf einer Wiese stehen, in die Landschaft schauen, und vor Ihnen befindet sich eine Nebelwolke. Sie sehen weiterhin die gleiche Szene vor sich, aber es sieht aus wie ein Grauschleier, der über der Landschaft liegt.“

Das bessere Kontrast-Sehverhalten spiegelte sich auch in der FACS-Analyse der Nuclei wider. Das Forscherteam löste dafür die Zellkerne aus den Stäbchenzellen von Mäusen in vier Altersklassen, beginnend bei 25 Tage alten Jung-Mäusen. Die FACS-Analyse zeigte, dass die Lichtstreuung mit dem Alter der Mäuse abnahm, also die Zellkerne der jungen Mäuse das Licht stärker streuten.

„Zu diesem Zeitpunkt konnten wir allerdings lediglich von einer Korrelation sprechen, die Kausalität zeigten wir schließlich mit der Inhibierung der Invertierung“, sagt Kreysing. Dafür nutzte die Gruppe eine transgene Mauslinie von der Münchener Kollegin Solovei. Bei den Tieren sind die Lamin-B-Rezeptoren überexprimiert, das Heterochromatin wird also dauerhaft an der Peripherie festgehalten, es bleiben mehrere Chromozentren bestehen und das aufgelockerte Euchromatin kann keinen äußeren Ring mehr bilden.

Doch wie sieht ein Bild aus, das durch eine Retina mit einer invertierten Chromatin-Anordnung geschickt wird? Um das herauszufinden, projizierten die Biophysiker mittels eines Mikroskops ein Muster von einem Videoprojektor hinter die Retina. „Wir haben das Mikroskop quasi rückwärts verwendet, um ein großes Bild zu verkleinern“, so Kreysing. „So konnten wir einen Kinofilm auf ein Haar projizieren.“ Ein zweites Mikroskop hinter der Retina zeigte den Forschern, wie das Bild aussieht, wenn es durch die Photorezeptoren gewandert ist. Das Ergebnis: Das Kontrast-Sehen bei adulten Mäusen ist mehr als doppelt so gut wie bei den jungen. Die transgene Maus-Linie hingegen behielt das schlechte jugendliche Kontrast-Sehvermögen auch im Erwachsenenalter bei.

Verhaltensexperimente von Kollegen der Technischen Universität Dresden stützten die Hypothese von Kreysing und seinem Team. Die Forscher setzten dafür sowohl Wildtyp- als auch transgene Mäuse separat in eine aufrecht stehende Röhre, deren Wand aus einem Monitor bestand. Auf dem Bildschirm bewegten sich schwarz-weiße Streifen, deren Breite das Dresdener Team variieren konnte. Reagierte die Maus mit ihrem Kopf auf die Bewegung der Streifen, konnte sie diese augenscheinlich noch auseinanderhalten. Mäuse, deren Kontrast-Sehvermögen durch eine fehlende Chromatin-Invertierung vermindert war, blieben bei schmaler werdenden Streifenbreiten regungsloser, obwohl sich das Muster um sie herum drehte. Ergo konnten sie die schwarz-weißen Streifen nicht mehr auseinanderhalten, sondern erkannten nur eine graue Fläche.

Sensitives Sehen

Um das Experiment so naturgetreu wie möglich zu gestalten, arbeiteten die Forscher mit unterschiedlichen Lichtverhältnissen. Die Ergebnisse zeigten, dass die Wildtyp-Mäuse im Gegensatz zu ihren transgenen Verwandten etwa ein Viertel sensitiver auf die Streifen und damit auf Kontrast reagierten.

„Nun könnte man natürlich auch vermuten, dass die transgene Maus schlechter sehen kann, weil das eingebrachte Transgen andere negative Nebeneffekte verursacht“, greift Kreysing vor. Diese Annahme widerlegte das Dresdener Team mit einem sogenannten Rescue Experiment. „Wir hatten vorher quantifiziert, wie viel Kontrast in den Netzhäuten verloren geht. Dies hat uns dann ermöglicht, den Kontrast im Verhaltensexperiment so anzupassen, dass er auf dem Level der Photorezeptoren gleich ist“, beschreibt Kreysing die Vorgehensweise. Sprich: Die Forscher hatten den Einfluss der Retina auf den Kontrast entfernt. Damit konnten die Forscher die Sensitivität der transgenen Mäuse in Bezug auf das Kontrast-Sehen wiederherstellen.

Die Erkenntnisse über die ungewöhnliche DNA-Organisation in den Stäbchenzellen haben zwar humanmedizinisch keine Relevanz, dafür könnten sie in einer anderen Disziplin ziemlich nützlich werden. „Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Methoden der Genetik dazu genutzt werden könnten, die optischen Eigenschaften von Zellen und Geweben zu verändern“, meint Kreysing und gibt ein Beispiel: „Die Gehirne von Mäusen sind für die Forschung zwar äußerst spannend, die Untersuchung dieses Gewebes mit Mikroskopen stößt allerdings wegen dessen Undurchsichtigkeit an ihre Grenzen.“ Die Dresdener Gruppe möchte deshalb Zellen transparenter machen; das steht ganz oben auf ihrer To-Do-Liste. Der European Research Council unterstützt sie dabei mit einer Förderung, die im vergangenen Herbst bewilligt wurde.

Wer nun vermutet, Kreysing und Co. möchten auch die Chromatin-Anordnung im Gehirngewebe invertieren, liegt daneben: „Das wäre natürlich eine Möglichkeit – allerdings kann es gut sein, dass das entweder so gar nicht funktioniert oder ungewollte Nebeneffekte verursacht“, schätzt Kreysing ein. „Wir haben uns deshalb für einen anderen Ansatz entschieden. Dieser ist zwar auch genetischer Natur, aber leider darf ich darüber noch nichts verraten“, schmunzelt er und schweigt eisern. Bleibt abzuwarten, welche Tricks sich die Dresdener haben einfallen lassen.



Letzte Änderungen: 06.04.2020