Editorial

Die Kraft, die bindet

Juliet Merz


MARTINSRIED: Muskeln und Sehnen müssen sich schon während der Embryonalentwicklung oder Metamorphose so gut verknüpfen, dass sie später genügend Belastung aushalten. Wie aber stellen sich Gewebe auf Kräfte ein, die sie nicht kennen, weil diese noch gar nicht wirken?

„Die Zukunft zeigt sich in uns, lange bevor sie eintritt.“ (Rainer Maria Rilke)

Wenn Muskeln und Sehnen sich verbinden, haben sie die Kräfte noch nicht erfahren, die später einmal auf sie zukommen. Wie der Organismus dennoch ein ausreichend stabiles Gerüst auf molekularer Ebene erbaut und welche Proteine daran beteiligt sind, haben Sandra Lemke und Kollegen vom Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried herausgefunden und veröffentlicht (PLOS Biology, doi: 10.1371/journal.pbio.3000057). Unter Leitung der ehemaligen Martinsrieder Frank Schnorrer sowie Carsten Grashoff untersuchte die Forschergruppe in Drosophila, wie sich im Puppenstadium die Muskeln und Sehnen der Flugmuskulatur verbinden – und konnte dadurch auf Grundlage einer vorangegangenen In-Vitro-Studie überraschende Ergebnisse erzielen.

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Der Querschnitt durch den Drosophila-Thorax zeigt, wie die Muskel-Sehnen-Kontaktstellen aufgebaut sind. Die Talin-Moleküle (grün) sind dabei mit den Actin-Filamenten (lila) verbunden und übertragen Kraft. In der unteren Abbildung ist zudem das Prinzip des Talin-Kraftsensors mit dem FRET-Effekt vereinfacht dargestellt. Bilder (4): Sandra Lemke

Eine besondere Rolle beim Verknüpfungsprozess von Muskeln und Sehnen spielt das Adapterprotein Talin. Dieses ist Bindeglied zwischen Rezeptoren in der Zellmembran (Integrinen) sowie dem Aktin-Cytoskelett. „Talin hatte man bereits in Zellkultur-Studien untersucht und herausgefunden, dass das Protein Kraft überträgt“, berichtet Erstautorin Lemke. „Damals hatten Carsten Grashoff et al. an den fokalen Adhäsionspunkten der Zelle mit der Glas- oder Plastik-Oberfläche von Zellkulturschalen gemessen, dass siebzig Prozent der Talin-Moleküle gleichzeitig unter Kraft stehen [Anm. d. Red.: Nat. Methods 14: 1090-96].“ In vivo sieht das anders aus, wie die Forschergruppe zeigen konnte.

Überraschend wenig...

Denn Talin kommt auch bei Drosophila vor und lagert sich während der Metamorphose der Puppe zur adulten Fliege auch an den Kontaktstellen von Muskeln und Sehnen der Flugmuskulatur an. Was die Biochemiker besonders überraschte: In diesem Entwicklungsstadium stehen nur maximal 15 Prozent der Talin-Moleküle unter Spannung. Und der Rest? „Wir stellen es uns so vor, dass die Proteine sich die Krafteinwirkung dynamisch teilen – also jedes Molekül muss mal ran – und dann eine relativ große Kraft aushalten.“ Den Vorteil dieser Arbeitsaufteilung schätzen die Biochemiker wie folgt ein: „Wenn nur wenige Talin-Moleküle die ganze Belastung aushalten können, sind noch genug andere dieser Proteine vorhanden, um zusätzlich Kraft abzufangen, ohne, dass das Gewebe reißt.“ Die Last kann so auf viele Moleküle verteilt werden, anstatt die einzelnen Taline mehr zu belasten.

... und doch so viel

Und tatsächlich stellten die Biochemiker fest, dass im Laufe der Metamorphose immer mehr Talin-Moleküle an den Muskel-Sehnen-Kontaktstellen hinzukommen und es am Ende sogar erstaunlich viele sind.

Um die Rolle der großen Ansammlung an Adapterproteinen weiter aufzudecken, reduzierten Lemke et al. die Anzahl der Talin-Moleküle an den Kontaktstellen mittels RNA-Interferenz. Das Ergebnis: Wenn fünfzig Prozent der Talin-Moleküle fehlten, schlüpften zwar überlebensfähige Taufliegen, versuchten diese aber das erste Mal zu fliegen, rissen die Muskel-Sehnen-Verknüpfungen ab. „In den erwachsenen Fliegen müssen also weitaus mehr als nur 15 Prozent der Talin-Moleküle arbeiten“, schlussfolgert Lemke und ergänzt: „Während der Entwicklung scheint es wichtig, trotz der im Vergleich zum Fliegen recht geringen Kräfte, welche in der Puppe wirken, ausreichend Talin-Moleküle an den Muskel-Sehnen-Kontakten anzusammeln.“ Denn nur so habe das adulte Tier später einen stabilen Kontakt, der bei größerer Belastung wie beim Fliegen nicht nachgebe.

Wie viele Talin-Moleküle Spannung aushalten müssen, während das erwachsene Insekt fliegt, konnten die Biochemiker nicht zeigen. „Man müsste dafür die Fliege während des Flugprozesses mit einem Fluoreszenz-Mikroskop untersuchen – das ist technisch kaum machbar.“

Aber wie misst man eigentlich Krafteinwirkung auf Molekül-Ebene? Indem man sich einen molekularen Spannungssensor bastelt, der mittels Fluoreszenz-Mikroskopie detektiert werden kann. Dafür bediente sich das Martinsrieder Team unter anderem des Förster-Resonanzenergietransfer (FRET)-Effekts. Bei dieser Methode kommen zwei Farbstoffe zum Einsatz; ein Donor und ein Akzeptor. Befinden sich die Farbstoffe in unmittelbarer Umgebung, springt Energie vom Donor auf den Akzeptor über und regt diesen an.

Molekulare Spannungsfeder

Lemke und Co. wandelten das Talin-Protein, das aus einem Kopf- und einem Schwanz­ende besteht, mittels CRISPR/Cas9 zu einem molekularen Spannungssensor um, indem sie in dessen Mitte ein mechanosensitives Linker-Peptid mit dem Namen Villin Headpiece Peptide (HP) platzierten. Das wirkt wie eine Feder und entfaltet sich ab sechs bis acht Piko­newton. Der Clou an der Geschichte: HP befindet sich zwischen den für den FRET-Effekt notwendigen Donor- sowie Akzeptor-Fluoreszenzproteinen. Gerät das Talin-Molekül unter Spannung, streckt sich auch HP und die beiden Fluoreszenzproteine driften auseinander. Durch den größeren Abstand verringern sich der FRET-Effekt beziehungsweise die FRET-Effizienz und damit auch die Anregung des Akzeptor-Fluoreszenzproteins.

Insgesamt benötigen Drosophila-Puppen neunzig Stunden für ihre Entwicklung, also knapp vier Tage. Die Arbeitsgruppe untersuchte aber primär nur zwei Zeitpunkte. Warum, erklärt Lemke: „Bei zwanzig Stunden alten Puppen haben die Muskelzellen gerade den Kontakt mit den Sehnenzellen hergestellt, nachdem sie aufeinander zugewandert sind.“ Danach verkürzen die Muskeln und ziehen lange zelluläre Extensions aus den Sehnenzellen heraus. „Das erweckt den Eindruck, als wären sie gespannt. Bei dreißig Stunden ist der Muskel am kürzesten und die Extensions am längsten – deswegen haben wir auch diesen Zeitpunkt untersucht.“ Danach wächst der Muskel, die zellulären Fortsätze werden immer kürzer.

Um zu überprüfen, ob das Gewebe wirklich unter Spannung steht, zerschnitt die Gruppe mit einem Laser nur die Muskeln beziehungsweise nur die Sehnen. Nach dem Schnitt klaffte dort jedes Mal eine Lücke und offenbarte, dass tatsächlich Spannung herrscht und von Entwicklungsstunde zwanzig bis dreißig sogar wächst.

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Biochemikerin Sandra Lemke hat Gefallen an der Mechanobiologie gefunden und wird diese zukünftig von der Princeton University aus erforschen.
Stoff für Spekulationen

Doch die Forscher machten eine weitere scheinbar widersprüchliche Beobachtung: „Bei zwanzig Stunden alten Puppen ist die FRET-Effizienz am geringsten, also die auf die Taline wirkenden Kräfte sind hier am größten“, sagt die Biochemie-Doktorandin. Bei dreißig Stunden alten Puppen konnte das Team dann gar keine Krafteinwirkung auf die Taline mehr detektieren. Und das, obwohl die Spannung im Gewebe zunimmt? Wie passt das zusammen? „Das liegt daran, dass zu diesem Zeitpunkt schon weitaus mehr Taline an den Kontaktstellen bereitstehen. Fünf Mal so viel von zwanzig auf dreißig Stunden“, erklärt Lemke. „Die Kraft wird vermutlich auf die viel größere Menge an Talin-Molekülen so sehr verteilt, dass wir sie nicht mehr detektieren können, obwohl die Spannung im Gewebe sogar zunimmt.“

Woher der Organismus schon in der Entwicklung einschätzen kann, wie viele Talin-Moleküle an den Kontaktstellen später einmal benötigt werden, bleibt unklar. Denn: „Es gibt einen Mechanismus, der dafür sorgt, dass die Muskel-Sehnen-Kontakte verstärkt werden. Dieser rekrutiert Proteine wie etwa Integrin oder Aktin zu den Kontaktstellen – und zwar, wenn viel Talin unter Kraft steht. Wir fragen uns jetzt natürlich: Wie finden die Proteine dennoch zu den Muskel-Sehnen-Kontakten, wenn eben in der Entwicklung der Puppe vergleichsweise wenig Kräfte wirken“, gibt Lemke zu bedenken. Sie könne sich vorstellen, die Antwort liege in der Regulierung mittels Gen­expression. „Das Talin-Gen könnte unabhängig von der Krafteinwirkung in der Entwicklung hochreguliert werden.“ Je mehr Talin vorhanden ist, desto mehr davon könnte zu den Muskel-Sehnen-Kontakten geschafft werden.

Auf zu neuen Ufern

Spielt die Kraft während der Metamorphose möglicherweise kaum eine Rolle? „Ich vermute, dass Talin zu dieser Zeit durchaus dafür zuständig ist, Kräfte zu spüren und den Muskel-Sehnen-Kontakt zu stärken“, meint Lemke. „Aber es muss zusätzlich eine zweite Form der Regulierung geben, die unabhängig vom aktuellen Talin-Bedarf ausreichend Moleküle für die Zukunft auftreibt. Wie diese Mechanismen auf molekularer Ebene aussehen, ist Bestandteil zukünftiger Forschung.“

Doch an dieser wird Lemke vorerst nicht teilnehmen. Denn nach ihrer Promotion bricht die Biochemikerin auf zu neuen Ufern. An der Princeton University in der gleichnamigen US-amerikanischen Stadt wird sie als Postdoc weiterhin in der Mechanobiologie forschen. Zwar nicht mit Drosophila, dafür aber entweder mit Zellkultur- oder Mausmodellen im Labor von Celeste Nelson. Welches Thema sie dort genau in Angriff nehmen wird, ist noch offen. „Es wird auf jeden Fall spannend“, freut sich Lemke und klingt fast ein bisschen ehrfurchtsvoll angesichts der anstehenden Veränderung. „Auch der Umzug in die USA wird spannend – aber wenn, dann jetzt.“



Letzte Änderungen: 10.10.2019