Editorial

Aus dem Takt gebracht

Sigrid März


Leipzig: Neurowissenschaftler schauen klassischen und Jazzpianisten ins Gehirn und finden Zeichen für hoch-spezialisiertes Lernen.

jc_18_03_02a
Jazzpianisten-Hirne wie das von Keith Jarrett sind jederzeit bereit zu improvisieren. Foto: ECM

Es ist bekannt, dass erfahrene Musiker mit ihren Instrumenten anders umgehen, sie anders wahrnehmen als musikalisch angehauchte Laien. Klavierspieler zum Beispiel lernen in vielen Jahren des Übens und Praktizierens, wie sie ihre Finger setzen müssen, um Musikstücke flüssig spielen zu können. Ein und derselbe Akkord wird intuitiv mit unterschiedlichen Fingergriffen belegt – je nachdem, wo die Finger gerade herkommen und wohin sie als nächstes gleiten. Das Gehirn plant also zukünftige Handlungen auf der Basis von Erlerntem.

Nach der hierarchischen Handlungstheorie sind bei einer solchen Planung mehrere Schritte nötig. Daniela Sammler vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig erklärt das am Beispiel des Kaffeetrinkens. „Zunächst planen Sie, die Tasse zu greifen. Das ist das Ziel, also das ‚Was’. Aber ebenso müssen Sie planen, ‚Wie’ Sie das machen: am Henkel, von oben, von der Seite.“

Mit ihrer Forschungsgruppe untersucht die Neurowissenschaftlerin und Psychologin, wie Menschen Sprache und Musik verstehen. Welche unterschiedlichen und – vielleicht noch viel wichtiger – welche gemeinsamen Mechanismen greifen bei solchen Lernprozessen? Dafür schauen Sammler und Co. unter anderem professionellen Pianisten auf die Finger – und ins Gehirn. So wissen sie, dass es die Planungsstufen, etwas sperrig „Hierarchical core structure of action control“ genannt, auch beim Klavierspielen gibt: Welche Tasten muss der Pianist drücken, damit ein Abschlussakkord harmonisch klingt („Was“)? Welche drei seiner fünf Finger nimmt er dafür („Wie“)?

Das klingt einfach, ist es aber nicht. Denn solche Einzelentscheidungen sind eingebettet in eine komplexe Sequenz aus Handlungen, denn man spielt nur selten einen einzelnen Akkord. So erwartet ein Pianisten-Gehirn aufgrund seiner Erfahrung am Ende einer Melodie einen bestimmten Dreiklang. Auch Nicht-Musiker hören, wenn ein Ton schief klingt, aber: „Der Musiker nimmt eine solche Verletzung von Harmonieregeln nicht nur auditorisch wahr, sondern auch motorisch. Im Prinzip weiß die Hand, welche Bewegung jetzt folgen sollte und welche eben nicht“, sagt Sammler. Um diese Prozesse zu verstehen, muss man den Musiker gehörig aus dem Takt bringen und währenddessen mittels Elektroenzephalographie (EEG) seine Hirnaktivität überwachen.

Mit Mütze an den Tasten

Das bringt die Leipziger zu folgendem Versuchsaufbau: EEG-bemützte Probanden sitzen an einem Klavier, dessen Tasten beim Drücken keinen Ton von sich geben. „Es geht lediglich um die Motorik, denn mit Ton würden EEG-Hirnpotentiale auftauchen, die fürs Hören zuständig sind. Die würden handlungsspezifische Hirnpotentiale überlagern“, erklärt Sammler das Versuchsprozedere. Auf einem Bildschirm sehen Pianisten „stumme“ Bilder von Händen, die Akkorde greifen. Möglichst simultan – pro Akkord bleiben ihnen zwei Sekunden – müssen die Versuchsteilnehmer die Akkordfolge exakt nachspielen. Die Herausforderung: Die Forscher haben Stolpersteine eingebaut. Manchmal endet die Melodie in einem harmonischen Dreiklang, mal disharmonisch, mal mit korrektem oder falschem Fingersatz.

jc_18_03_02b
AG-Leiterin Daniela Sammler Foto: MPI f. Kognitions- & Neurowissenschaften

Wie die Pianisten auf diese „Fehler“ reagieren, können die Forscher dank Event-related Potential (ERP) live im Gehirn mitverfolgen. „Das Gehirn reagiert auf einen bestimmten Reiz mit immer demselben Muster “, so Sammler. „Sie hören einen Ton, wir sehen eine Schwingung im EEG.“ Die Probanden sitzen also anderthalb Stunden vor ihrem stummen Klavier und spielen immer wieder die gezeigten Akkordfolgen nach. Allerdings koordiniert das Gehirn nicht nur „Obacht! Diesen Akkord mit Fingersatzfehler nachspielen“, sondern gleichzeitig viele andere Dinge wie: „Atmen nicht vergessen“, „aufrecht sitzen“, „nächstes Bild anschauen“, und so weiter.

Während jedoch Hintergrundaktivitäten zufällige Kurven produzieren, sorgen die konstanten Versuchsbedingungen für spezifische Signale. Eine Mittelung addiert diese auf, während der Hintergrund als unspezifisches Rauschen herausgerechnet wird. Es bleibt eine Ereignis-korrelierte Antwort in Form einer zeitaufgelösten Spannungskurve. Die zeigt, wie schnell das Gehirn auf einen Reiz reagiert und nachfolgende Handlungen anpasst, also neue Befehle gen Finger schickt.

Bereits 2016 hatten die Leipziger Forscher um Erstautorin Roberta Bianco mit einem solchen Versuchsaufbau experimentiert. Die Biologin und studierte Musikerin hatte bei Sammler promoviert und ist inzwischen am University College London als Postdoktorandin tätig. Sie stellte fest, dass sich selbst das erfahrene Pianisten-Gehirn aus der Ruhe bringen lässt. Erlerntes spielt dabei eine wichtige Rolle, denn die Klavierspieler brauchten bei der Anpassung an einen unerwarteten Schlussakkord länger, wenn diesem vier Akkorde statt nur einer voran ging (J. Cogn. Neurosci. 28: 41-54): Je länger die Melodie, umso höher die Erwartungshaltung auf das, was als nächstes kommt. Eine mögliche Handlung wird also im Voraus geplant, bei Überraschungen muss zügig umdisponiert werden.

In ihrer neuen Studie versuchten Bianco et al. dieses Phänomen weiter aufzudröseln. Dafür rekrutierten sie nicht nur einfach Pianisten, sondern unterschieden zwischen klassischen und Jazzpianisten (Neuroimage 169: 383-94).

Warum das? Ob „soulig“, „funky“ oder „groovy“, der erst um 1900 entstandene Musikstil Jazz ist immer gut für schräge Töne und ausgefallene Beats. Ganz anders Klassik mit jahrhundertelanger Tradition, klaren Strukturen und fließendem Rhythmus. Da prallen Welten aufeinander. Doch beide Musikrichtungen folgen „grammatikalischen“ Regeln, leben von Melodien und Harmonien. Und ohne Fingerfertigkeit und jahrelanges Training bleibt es in beiden Genres beim Geklimper.

Deshalb war eine mindestens sechsjährige Pianoausbildung Teilnahmevoraussetzung. Während die Jazzer zudem mehr als zwei Jahre Jazz-Erfahrung mitbrachten, mussten die Klassiker völlig jazzfrei sein. Beide Gruppen spielten für die EEG-Versuche exakt dieselben Akkordfolgen und sahen sich mit denselben Stolpersteinen konfrontiert. Das Ergebnis: Laut ERP-Kurven brauchten die „klassischen grauen Zellen“ länger als 550 Millisekunden, um auf eine unerwartete Disharmonie zu reagieren, während die „Jazz-Hirne“ bereits nach 370 Millisekunden mit der Korrektur ihres Handlungsplanes begannen. Gleichzeitig machten Letztere dabei mehr Fehler beim Greifen „falscher“ Schlussakkorde; den Klassik-Pianisten hingegen unterliefen bei der Fingersatz-Nachahmung weniger Patzer.

jc_18_03_02c
Erstautorin Roberta Bianco Foto: MPI f. Kognitions- & Neurowissenschaften

Sammler interpretiert die Resultate so: „Beide Pianistengruppen setzen unterschiedliche Schwerpunkte, worauf sie in der hierarchischen Handlungsplanung besonders achten. Jazzpianisten achten eher auf das ‚Was‘, also darauf, Harmonien korrekt zu spielen und flexibel auf Harmonieverletzungen zu reagieren. Die klassischen Pianisten hingegen konzentrieren sich eher auf den Fingersatz, also das ‚Wie‘.“ Laut Sammler sei das nicht überraschend: „Ein Jazzpianist trainiert ständig, aus schrägen Harmonien etwas zu machen, schnell zu korrigieren und flexibel anzupassen.“ Sie wollen das Werk eines Komponisten nicht wiedergeben, sondern kreativ ihr eigenes Ding machen. Und wenngleich die Jazzer bei der doch recht un­spektakulären Wiederholung der immer gleichen Akkorde keinerlei Kreativität brauchten, blieb ihr Hirn in Habachtstellung. Jederzeit bereit zu improvisieren.

Auf der anderen Seite legten die klassischen Pianisten ihren Fokus auf die korrekte Fingerstellung. „Klassische Pianisten sind im Prinzip akkurate Übersetzer: Sie sehen Noten und spielen sie sofort. Sie interpretieren ausdrucksstark, wollen das Publikum emotio­nal berühren“, sagt Sammler. Jetzt sei es ihnen gelungen, erstmals genau diese genrespezifischen Unterschiede auf neurobiologischer Ebene zu zeigen.

Auch für Sprache relevant

Die Ergebnisse geben einen Hinweis darauf, wie das Gehirn trainiert und sich spezialisiert, sich in sensomotorischen Arealen sogar anatomisch und funktionell anpasst. Das gilt nicht nur für die Musik. „Wie lerne ich zum Beispiel eine Sprache, die im Satzbau anders ist als Deutsch?“, fragt Sammler und ergänzt: „Dass sich unser Gehirn so fein, so genau auf Anforderungen in unserer Umwelt einstellt, und bis zu welchem Spezialisierungsgrad das nachweisbar ist, das ist schon beeindruckend.“ Wenngleich die Wissenschaftlerin betont, dass dies reine Grundlagenforschung sei, so kann sie sich doch einen Nutzen in Pädagogik und Lehre vorstellen, indem man das Prinzip umdreht: „Wie schaffe ich in einer Therapie eine definierte Umwelt, um bestimmte Änderungen im Gehirn hervorzurufen?“

Natürlich ist dafür noch viel Forschung nötig. Demnächst etwa widmen sich die Leipziger der exakten Ortung der aktiven Zentren im Hirn mithilfe der Magnetresonanztomographie (MRT). „Wenn man ein Programm stoppen muss, das eigentlich schon in den Fingern ist, den Ablauf korrigieren muss, dann läuft das in den posterioren Arealen ab. Dort sitzen die Motorplanungsareale.“ Und genau dort zeigen auch die EEG-Topographien die meiste Aktivität, aber eben nur grob. Die MRT soll das klarer machen.



Letzte Änderungen: 10.10.2019