Editorial

Algen aufgepasst

Juliet Merz


JENA: Mikroben attackieren sich, Botaniker schauen tatenlos zu – und entdecken dabei eine neue chemische Kriegsführung. Die Grünalge Chlamydomonas reinhardtii führt einen aussichtslosen Kampf gegen Bakterien der Art Pseudomonas protegens. Mit einem speziellen Lipopeptid zwingen die Prokaryoten ihre Konkurrenten in die Knie.

jc_18_01_01a
Rasterelektronenmikroskop-Aufnahme von Chlamydomonas reinhardtii. Verlieren die Grünalgen ihre Geißeln, sind sie den Attacken von Pseudomonas protegens hilflos ausgeliefert. Foto: Dartmouth College

Pseudomonas protegens ist erbarmungslos. Treffen die zwei Mikrometer kleinen gramnegativen Bakterien auf die rund fünfmal größeren Grünalgen der Art Chlamydomonas reinhardtii, kommt es zum Kampf. Bei diesem bedrängen die Prokaryoten die eukaryotischen Zellen in Scharen und kesseln sie ein. Chlamydomonas hat keine Chance zu entkommen und stirbt.

Dieses makabre Schauspiel fasziniert eine Gruppe Wissenschaftler ganz besonders: Die Botaniker, Biochemiker und Naturstoffchemiker der Friedrich-Schiller-Universität Jena und des Leibniz-Instituts für Naturstoff-Forschung und Infektionsbiologie – Hans-Knöll-Institut (HKI), ebenfalls in Jena. Im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Chemische Mediatoren in komplexen Biosystemen“ knöpften sich Maria Mittag, Severin Sasso und Christian Hertweck unter anderem die Grünalge C. reinhardtii vor, um einen Einblick in ihre Nachbarschaftsverhältnisse zu ergattern. ­Ihre Ergebnisse publizierte die Gruppe kürzlich in Nature Communications (8: 1756). Aber was macht den Phytoflagellaten für die Forschung so interessant?

„Mikroalgen wie Chlamydomonas sind ökologisch sehr wertvoll“, stellt Sasso klar. „Sie tragen einen wichtigen Teil zur globalen CO2-Fixierung bei und stehen als photosynthetische Mikroorganismen am Anfang der Nahrungskette.“ Trotz ihrer Bedeutung wissen Forscher allerdings recht wenig über die Wechselwirkungen zwischen den winzigen Einzellern und anderen Mikroorganismen.

Mikroben-WG

Grund genug, für die Jenaer Botaniker genauer zu schauen, mit wem C. reinhardtii zusammenlebt. „Man findet Chlamydomonas auch in Deutschland zum Beispiel in Böden und Äckern“, weiß Sasso. Habitate also, die auch von unzähligen Bakterienarten bewohnt werden. In ersten Experimenten schafften es jedoch nur drei Kandidaten in die engere Auswahl und durften sich mit den Algen für drei Tage eine Petrischale teilen.

Der wesentlich kürzere und stilvollere Versuch à la „Big Brother“ funktionierte leider nicht für alle Beteiligten. Während sich die Grünalgen mit zwei Kandidaten, den gramnegativen Bakterien Flavobacterium johnsoniae und Xanthomonas campestris, gut verstanden, schien die WG mit Pseudomonas protegens weniger zu harmonisieren: P. protegens hatte offensichtlich Stress mit den Chlamydomonaden und behinderte ihr Wachstum beträchtlich.

Mit dem Mikroskop verfolgten Erstautor Prasad Aiyar et al. den Streit live mit. Zu Beginn des Experiments befanden sich die Grünalgen alleine auf einem Objektträger und schwammen quicklebendig umher. Nach kurzer Zeit fluteten die Jenaer das Slide mit einer Pseudomonaden-Suspension – und der Seelenfriede war dahin. Innerhalb kürzester Zeit hatten die Bakterien die Grünalgen umschwärmt und nach zwei Minuten vollständig eingekesselt. Im weiteren Verlauf beobachteten die Botaniker, dass sich Chlamydomonas immer weniger bewegen konnte, bis die Zellen schließlich komplett regungslos in der Suspension umhertrieben. Auch die Morphologie von C. reinhardtii hatte sich stark verändert: Die eigentlich ovalen Einzeller waren rundlich angeschwollen, und das Innere der Zelle war granuliert. „Ihr Aussehen deutete darauf hin, dass die Zellen tot waren“, erklärt Sasso.

Doch was hatte C. reinhardtii bewegungsunfähig gemacht? „Jede Chlamydomonas-Zelle hat zwei Geißeln, die sie zum Schwimmen braucht“, erklärt Sasso. Die Schwimmrichtung bestimmen die Grünalgen entweder anhand photo- oder chemotaktischer Stimuli, um geeignete Lichtbedingungen oder Nährstoffe zu finden. Die Geißeln sind jedoch die Achilles-Ferse der Algen – ohne sie sind sie hilflos.

Bei genauerem Hinsehen erblickten die Botaniker auf den Mikroskop-Aufnahmen den Grund für die Bewegungslosigkeit: Nach Behandlung mit der Pseudomonaden-Suspen­sion trieben im Medium neben den Algen fadenähnliche Strukturen – die Chlamydomonaden hatten ihre Geißeln abgeworfen. P. protegens musste die Schwachstelle „entdeckt“ haben.

Chemische Waffe

Eine Analyse per Massenspektrometrie identifizierte die Tatwaffe: Die Prokaryoten sezernierten das bakterielle Lipopeptid Orfamid A. Selbst Versuche mit Medium ohne Bakterien aber mit supplementiertem Orfamid A ließen Chlamydomonas erlahmen. Doch was bewirkte das zyklische Lipopeptid in der Grünalgen-Zelle?

Um das herauszufinden, etablierten Sasso und Co. einen Aequorin-Reporter-Stamm in C. reinhardtii. Dieser produziert im Cytosol das Photoprotein Aequorin, welches in Abhängigkeit der dortigen Calcium-Konzentration leuchtet. Und tatsächlich: Pseudomonas und Orfamid A alleine lösten in Chlamydomonas ein Calcium-Signal aus. „Calcium ist in vielen Organismen für Signal- und Stoffwechselwege unabdingbar“, erklärt Sasso. Bestimmte Calcium-Signale in Chlamydomonas führen jedoch dazu, dass die Algen deflagellieren. „Das legt die Vermutung nahe, dass die Bakterien Orfamid A als chemische Waffe einsetzen, um die Algen zu lähmen“, so Sasso.

Über welchen Weg das Calcium in die Zelle gelangt, wissen die Jenaer noch nicht ganz genau. „Anfangs vermuteten wir, dass Orfamid A Löcher in die Zellmembran schlägt,“ meint Sasso. Doch Versuche mit dem Farbstoff Evans Blue hatten gezeigt, dass es Orfamid A nicht schaffte, in kurzer Zeit für den Farbstoff ausreichend große Löcher zu generieren. „Das schließt aber nicht aus, dass Orfamid A möglicherweise für kleinere Löcher verantwortlich ist“, verdeutlicht Sasso.

Eine andere Möglichkeit für Calcium, in die Zelle zu gelangen, sei laut Sasso der Einstrom über Calcium-Kanäle in der Plasmamembran. Um dies zu testen, behandelten die Botaniker Chlamydomonas mit dem Calcium-Kanal-Inhibitor Lanthan. Das Aequorin-Signal zeigte: In Gegenwart des Inhibitors löste Orfamid A praktisch kein Calcium-Signal aus. „Zusammengefasst deuten die Daten darauf hin, dass Orfamid A direkt oder indirekt zur Öffnung eines Calcium-Kanals führt“, schließt Sasso.

jc_18_01_01b
Jenaer Forschergruppe um Maria Mittag und Severin Sasso (beide hinten) mit Erstautor Prasad Aiyar (zweiter von rechts) (Foto: Jan-Peter Kasper/FSU )

Ein weiteres Indiz ist, dass Orfamid A spezifisch Algen der Klasse Chlorophyceae bewegungsunfähig macht, zu der auch Chlamydomonas gehört. „Dieser Effekt gibt Grund zur Annahme, dass Orfamid A an einen ­Calcium-Kanal oder eine andere Membrankomponente bindet, die nur in der Klasse der Chlorophyceae vorkommt“, erläutert Sasso die aktuelle Hypothese des Jenaer Teams. „Doch dafür sind noch weitere Arbeiten notwendig.“

Wozu die Attacke?

Aber was bringt Pseudomonas der Angriff? Das fragten sich auch die Botaniker und setzten die Prokaryoten auf Diät. „Im Medium mit reduzierten Nährstoffen konnten die Bakterien besser wachsen, wenn Chlamydomonas zugesetzt war“, erzählt Sasso. So kann sich Pseudomonas also an den Grünalgen bedienen, sollten die Spurenelemente knapp werden. Wie genau, wissen die Botaniker nicht.

Sie vermuten, dass die Algen-Zelle nach ihrem Tod Nährstoffe ins Medium abgibt. Befinden sich die Prokaryoten in einer Umgebung voller Spurenelemente, ist das jedoch noch lange kein Grund, die Algen zu verschonen: „Pseudomonas hemmt und tötet Chlamydomonas letztendlich, egal wie viele Nährstoffe vorhanden sind“, stellt Sasso klar. Erbarmungslos.

In Zukunft möchten sich die Botaniker auch den anderen chemischen Mediatoren widmen, die an der Wechselwirkung beteiligt sind und herausfinden, welchen Einfluss sie auf Chlamydomonas haben. „Unsere Versuche mit Orfamid A-Mutanten deuten darauf hin, dass noch weitere Substanzen eine Rolle spielen“, vermutet Sasso. Denn Pseudomonaden, die keine Orfamide produzieren konnten, hemmten das Wachstum der Chlamydomonaden ebenfalls – allerdings in abgeschwächter Form.

Im Jenaer Labor gibt es also noch reichlich Arbeit, sodass es Mittag und Co. wohl kaum langweilig wird.



Letzte Änderungen: 10.10.2019