Gute wissenschaftliche Praxis – ein alter Hut, oder!?

Henrik Müller


Editorial

(10.03.2022) Wissenschaftsskandale entstammen häufig den Lebenswissenschaften. Mangelt es Biologen und Medizinern an Integrität? Oder existieren einfach nur keine guten wissenschaftsethischen Fortbildungsveranstaltungen?

Ihr eigenes Institut arbeitet wissenschaftlich einwandfrei. Davon, sehr geehrte Leserinnen und Leser, sind nicht nur Sie, sondern vor allem Ihre Chefetage überzeugt. Zumindest ergab das eine Befragung an dänischen Universitäten (Sci. Eng. Ethics., doi: 10.1007/s11948-020-00262-w). Ihr zufolge nehmen Forschungs- und Abteilungsleiter zwar Reproduzierbarkeitskrise, Wissenschaftsskandale und schwindendes Vertrauen der Öffentlichkeit wahr, doch ihre eigene Abteilung trägt dazu unmöglich bei. Es sind stets andere Institute, Fachbereiche und Länder, denen es an Forschungsintegrität mangelt. Handlungsbedarf vor Ort besteht nicht.

Nun ist Dänemark nicht Deutschland, Österreich oder die Schweiz. Außerdem kommen spektakuläre Betrugsfälle glücklicherweise selten vor, und Ergebnisse werden sich schon reproduzieren lassen, wenn sich alle nur ein wenig mehr anstrengen. Denn mal Hand aufs Herz: Arbeiten Sie selbst wissenschaftlich tadellos? Bestimmt! Schließlich schützt Sie Ihr Institutsumfeld davor, zu sehr auf bibliometrische Bewertungskriterien wie den Journal-Impact-Faktor zu schielen, einem Publish-or-Perish nachzugeben und halbgare Wahrheiten zu veröffentlichen. Auch die Schludrigkeiten und kleinen Inkompetenzen des Alltags fallen nicht schwer ins Gewicht. Mit anderen Worten: Die Ursache für Reproduzierbarkeits- und Vertrauenskrisen liegt in den Strukturen des Wissenschaftssystems da draußen. Ihre Lösung findet sich indes bei Ihnen vor Ort in Form Ihrer lokalen Forschungskultur und des Miteinanders Ihrer Kollegen.

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Wenn der Wettbewerbsdruck zu stark wird, kann bei einem misslungenen Experiment die Versuchung siegen, die Ergebnisse zu „verschönern“.
Foto: Diane A. Reid/National Cancer Institute

Editorial
Richtlinien vorhanden

Doch ist das nicht ein Widerspruch? Wären für ein systemisches Problem nicht systemische Lösungsansätze nötig? Tatsächlich mangelt es nicht an ihnen: Im März 2017 veröffentlichten der Zusammenschluss der Akademien der Wissenschaften in Europa (ALLEA) und die Europäische Kommission eine überarbeitete Version des Europäischen Verhaltenskodex für Integrität in der Forschung. Auf einem Dutzend Seiten beschreibt er die Verhaltensregeln guter Forschungspraxis auf Basis von vier Prinzipien: Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Respekt und Rechenschaftspflicht. Alle Stipendiaten des EU-Forschungsrahmenprogramms Horizont Europa verpflichten sich ihnen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) aktualisierte ihre 19 Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis zuletzt 2019. Wer DFG-Fördermittel möchte, unterzeichnet sie. Auch wer gerade keine EU- oder DFG-Stipendien nutzt, findet auf der eigenen Institutswebsite ähnliche Grundsätze. Fakultativ sind für den Forschungstreibenden keine davon.

An offiziellen Richtlinien fehlt es also nicht. Eigentlich braucht die Bioforschungsgemeinschaft ihnen nur zu folgen und Reproduzierbarkeits- und Vertrauenskrisen wären Geschichte. Dennoch scheinen sich die meisten aufgedeckten Fälschungsvorfälle – die sicher nur die Spitze des Eisbergs bilden – in der Biomedizin zu finden. Warum? Von Andrew Wakefields 1998 erfundener Verbindung zwischen Masern-Mumps-Röteln-Impfungen und Autismus über Hwang Woo-suks Totalfälschung geklonter, humaner Stammzell-Linien im Jahr 2005 bis hin zu den seit vergangenem Jahr 153 Retraktionen des früheren Gießener Anästhesiologen Joachim Boldt ist allen eines gemein: Die Versuchung ist groß, Daten zu „verschönern“.

Der Privatdozent für Biomedizin-Ethik am Rechtswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich, Roberto Andorno, nennt die wichtigsten Ursachen: „Zum einen sind die finanziellen Vorteile wissenschaftlicher Entwicklungen im Gesundheitswesen enorm. Schnell lockt eine berufliche Karriere. Zum anderen können Forschungsergebnisse nicht so präzise reproduziert werden wie in der Mathematik oder Physik. Wird Labormäusen die gleiche Substanz an der gleichen Stelle injiziert, kann man sich nicht sicher sein, überall die gleichen Krebszellen vorzufinden. Diese biologische Variabilität zwischen Organismen, Zellen und Molekülstrukturen lässt einen Interpretationsspielraum offen, der manipulierte Daten schwieriger zu identifizieren macht.“

Gleichzeitig ist Wissenschaft eben nicht länger Berufung, sondern Karriere. Begutachtungsverfahren und Wettbewerbsdruck fördern Moralvorstellungen nicht, ergänzt Andorno. „Auch Wissenschaftler sind nur normale Menschen mit Ambitionen und Leidenschaften.“ Das US-Office of Research Integrity führt eine lange Liste aktueller Untersuchungen wissenschaftlichen Fehlverhaltens.

Schlüsselfaktoren

Für all das liegt die Lösung eigentlich auf der Hand: Alle Masterstudenten und Doktoranden sollten verpflichtet werden, eine Lehrveranstaltung für Integrität in der Forschung zu besuchen (siehe Infokasten auf Seite 22, Link). Alltagsschludrigkeiten sollte das vermindern, Wissenschaftsskandale gar unterbinden.

„Nicht so einfach“, urteilt Andorno, der ebensolche Kurse seit 2017 auf dem Graduiertencampus der Universität Zürich verantwortet: „Wir verfolgen hier zweierlei Lehrziele: einerseits das Wissen um Konzepte und Prozeduren verantwortungsbewusster Forschung, wie etwa Autorenrechte, gesunde Mentor-Mentee-Beziehungen und die Vermeidung von Interessenskonflikten und Plagiaten, und andererseits eine ethische Geisteshaltung unserer Teilnehmer.“ Evaluieren lässt sich jedoch nur der Wissensteil, sagt Andorno. „Ob die moralische Urteilskraft von Studenten in derartigen Lehrveranstaltungen reift, ist schwer beurteilbar.“ Zumal sich viele Dozenten gar nicht erst die Mühe machen, um Feedback zu bitten. Laut einer Befragung akademischer Institutionen im Rahmen des EU-finanzierten Projekts „Integrity“ im Jahr 2019 evaluieren nur die Hälfte aller Dozenten solcher Kurse ihren Lehrerfolg.

Existieren vielleicht dennoch Schlüsselfaktoren, anhand derer wissenschaftliche Integrität erfolgreich gelehrt werden kann? Dieser Frage ging Andorno gemeinsam mit Johannes Katsarov von der Zürcher Arbeits- und Forschungsstelle für Ethik und Mariëtte Van Den Hoven vom Ethikinstitut der Universität Utrecht als Teil des EU-Projekts „Integrity“ nach. Gemeinsam sichteten sie 1.548 Publikationen, die entsprechende Bildungsanstrengungen zwischen 1990 und 2020 beschrieben. Erstautor Katsarov erklärt: „Für unsere Meta-Analyse berücksichtigten wir nur Studien, die ihren Lehrerfolg in Bezug auf das Wissen, die Einstellungen und die Kompetenz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer objektiv anhand wissenschaftsethischer Probleme evaluierten, und zwar im Vergleich zu Prä-Tests oder Kontrollgruppen. Selbsteinschätzungen der Lernenden oder Zufriedenheitsevaluationen ignorierten wir.“ Nur dreißig Studien entsprachen diesen strengen Anforderungen (Educ. Psychol. Rev., doi: 10.1177/026119290603400610).

Mithilfe mehrdimensionaler Meta-Regressionsanalyse destillierte das schweizerisch-niederländische Autorengespann diejenigen Kurs-Charakteristika heraus, die die ethische Urteilsfähigkeit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer beflügelten. Dafür mussten sie alle Kurseigenschaften gleichzeitig betrachten, da diese oft korrelieren. Werden beispielsweise Fallbesprechungen in Gruppendiskussionen realisiert, lässt sich nicht ohne weiteres ableiten, ob die Diskussion einzelner Fallbeispiele oder das gemeinsame Lernen als Gruppe den Lehrerfolg begünstigten. Eine Regressionsanalyse fitzelt derartige Kreuzeinflüsse auseinander.

Emotionalität ist das A und O

Die vielleicht erstaunlichste Einsicht der Meta-Analyse lautet: Pure Fakten bringen wenig. Vor allem emotionales Engagement zählt. Ein intellektuelles Abwägen des Für und Widers abstrakter Fallbeispiele – also der angebliche Goldstandard des Ethikunterrichts – erwies sich als wenig effektiv. Nur Kurse, die komplett auf Fallbeispiele verzichteten, schnitten schlechter ab. Besser rangierten dagegen erfahrungsbasierte Lehrveranstaltungen, in denen Teilnehmer aktiv ihre eigenen Motive, Erlebnisse oder Dilemmas beschrieben sowie Lösungsvorschläge und deren Konsequenzen diskutierten. Katsarov erklärt: „Hypothetische Szenarien weisen Lernende oft von sich. Schließlich würde ihnen selbst so etwas nie passieren.“ Rollenspiele machen sie dagegen zu Akteuren: „Sie können sich nicht länger emotional distanzieren und erfahren an ihrer eigenen Haut, wie ihre ethische Problemsensitivität unterminiert wird von Arbeitsstress, Interessenskonflikten und sozialem Druck – insofern sie nicht auf solche Situationen vorbereitet sind.“

Praxisbezug und emotionale Verknüpfung sind laut Meta-Analyse die mit Abstand besten Indikatoren für einen erfolgreichen Integritätskurs. Ob beides als Rollenspiel umgesetzt wird, durch ein Hinterfragen von Selbsteinschätzungen, durch eine interaktive Geschichte oder einen zu schreibenden Essay, ist letztendlich egal – solange Teilnehmerinnen und Teilnehmer aktiv reflektieren, wie sie in einer ethisch herausfordernden Situation reagieren würden.

Katsarov hat mit digitalen Ethiklernspielen, sogenannten Serious Moral Games, gute Erfahrungen gemacht: „Spiele wie ‚Academical’ oder ‚uMed: Your Choice’ führen teils zu starken Einstellungsänderungen. In einem Szenario zum Beispiel sehen sich Medizinstudenten als Assistenzarzt mit einer Führungskraft konfrontiert, die einen Patienten mit invasiven, riskanten Methoden untersuchen möchte, obwohl diagnostische Indizien das nicht rechtfertigen. Viele Studentinnen und Studenten scheitern daran, sich auf geeignete Weise gegen die Führungskraft durchzusetzen, was mit einem schweren Schaden für Patienten und Klinik endet.“ Nach Spielende erinnern sie sich dank aktiver Auseinandersetzung und wahrscheinlichem Misserfolg nicht nur besser an forschungsethische Grundsätze, sondern reifen auch in ihrer ethischen Urteilsfähigkeit.

Außerdem beginnen erfolgreiche Lehrveranstaltungen wider die Erwartung, sagt Andorno: „Tritt ein Dozent am Anfang vor die Kursteilnehmer und präsentiert abstrakte Verhaltensregeln Artikel für Artikel im Frontalunterricht, resultiert das häufig in Gleichgültigkeit.“ Weder macht dieses Vorgehen Teilnehmerinnen und Teilnehmer sensitiver für ethische Probleme, noch lernen sie Strategien zu deren Lösung.

Auf den ersten Blick scheint diese Erkenntnis jedoch paradox: Die besten Kurse für gute wissenschaftliche Praxis lehren die Richtlinien guter wissenschaftlicher Praxis nicht. „Lernende schalten ihren Verstand ab, wenn sie sich vorgefertigter Regeln bedienen können“, erklärt Katsarov. „Außerdem behindert Reaktanz ihren Lernerfolg, also ein psychologischer Widerstand dagegen, Normen zu verinnerlichen, deren Notwendigkeit unklar ist und die eher als bürokratische Hindernisse wahrgenommen werden.“ Andorno ergänzt: „Müssen Teilnehmer hingegen Arbeit reinstecken und ethische Standards selbst entwickeln, lernen sie deren Wert schätzen und verankern sie in ihrem Bewusstsein.“ Mit einem Schmunzeln fügt er hinzu: „Für den Dozenten ist dann der Moment unheimlich zufriedenstellend, wenn die Teilnehmer erfahren, dass ihre eigenen Sichtweisen den öffentlichen Richtlinien entsprechen.“

Eine unwichtige Rolle spielten laut Meta-Analyse die Gruppengröße, die Anzahl besprochener Fallbeispiele, die Geschlechterzusammensetzung, die Verwendung von E-Learning-Methoden und die Zugehörigkeit der Teilnehmer zu verschiedenen Fachbereichen – insofern eine Praxisnähe erhalten blieb. Eine mehr als halbtägige Kursdauer hat einen positiven Effekt. Erfolgreiche Kurse verlassen sich außerdem nicht nur auf Gruppenaktivitäten, in denen sich der Einzelne zurücklehnen kann, sondern fördern mit möglichst wenigen Unterrichtsformen ein aktives, individuelles Engagement. Negativ auf den Wissenserwerb wirkt sich dagegen eine Anwesenheitspflicht aus, vermutlich weil nur freiwillige Kurs­teilnehmer intrinsisch motiviert sind.

Praxistauglichkeit

Nun nutzen die didaktisch wertvollsten Kurspläne nichts, wenn sich niemand anmeldet. Das ist derzeit vielleicht die größte Herausforderung, konstatiert Katsarov: „Viele Ansätze scheitern, weil sich Leute über ethische Fragen erhaben fühlen.“ Verhaltenskodizes zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis werden oft nur als zu unterschreibender Teil von Bewerbungs- und Einstellungsformularen begriffen. In der Praxis gelten sie als wenig hilfreich, denn zu abstrakt und generalisiert sind ihre Leitlinien, zu wenig werden sie den Nuancen individueller Verdachtsfälle gerecht. Sie werden als Soft Skills erachtet, die nebenbei erlernt werden können. „Wären Forscherinnen und Forscher arbeitsrechtlich an konkrete wissenschaftliche Standards gebunden, stießen entsprechende Kursangebote sicherlich auf größeres Interesse“, glaubt Katsarov.

Zum Abschluss benennt Andorno den eigentlichen Missstand: „Neben Doktoranden sollten deren Doktorväter und Doktormütter, Professoren und Institutsdirektoren Integritätskurse besuchen. Denn sie sind es, die einerseits fast immer involviert sind, wenn wissenschaftliches Fehlverhalten aufgedeckt wird, und deren Verhalten andererseits in den Grauzonen des wissenschaftlichen Alltags den größten Einfluss auf Nachwuchswissenschaftler hat. Doch aus politischen Gründen werden sie nicht als schulungsbedürftig erachtet.“ Welcher Seniorforscher möchte sich schon zu Nachschulungen verdonnern lassen?




Gute wissenschaftliche Praxis (GWP): Wo informieren?

Den meisten Promovierenden und Habilitierenden naturwissenschaftlicher und medizinischer Fakultäten werden GWP-Schulungen hausintern angeboten. Daneben existieren verschiedene Anbieter von GWP-Kursen, die sich auch an externe Teilnehmer richten, wie zum Beispiel:

» Graduiertenzentrum der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg:
Einführung in GWP für Promovierende und Postdocs
fau.de/graduiertenzentrum

» Graduiertenakademie der Goethe-Universität Frankfurt (GRADE):
eLearning-Kurs „Gute Wissenschaftliche Praxis in der Promotion“
uni-frankfurt.de/53981968/Portal_GWP

» Access 2 Perspectives:
Online-Kurs Forschungsintegrität
access2perspectives.org/de/topics/research-integrity

» Bibliothek des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT):
Anwendungsorientierte Onlinekurse zur GWP für Studenten
opencourses.kit.edu

» Mainz Research School of Translational Biomedicine (TransMed):
GWP für Promovierende und PostDocs
unimedizin-mainz.de/transmed

» Elsevier Researcher Academy:
Verschiedene Online-Module zu Plagiaten, Datenmanipulation, Urheberschaft und Publikationsethik
researcheracademy.elsevier.com

» Training and Resources in Research Ethics Evaluation (TREE):
Fernlehrgang zu medizinischer Forschungsethik
elearning.trree.org


Darüber hinaus publizieren alle Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen eigene Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis und beschäftigen Kommissionen zu deren Sicherung sowie eine oder mehrere Ombudspersonen. Bei Fragen und Konflikten zum Thema GWP berät auch das Ombudsgremium für wissenschaftliche Integrität der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Überdies veranstaltet es Workshops für Ombudspersonen und stellt Curricula und Lehrmaterialien für GWP-Veranstaltungen wie Fallstudien, Comics, Filme, Lernkarten, Foliensätze und Handbücher kostenlos zur Verfügung. Eine umfangreiche Materialsammlung für GWP-Kurse bietet auch die „Embassy of Good Science“, inklusive Anleitungen zur Kursentwicklung, Fallbeispiele und Videos.