COVID-19: Zwischen „mild“ und „tödlich“

Mario Rembold


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Illustr.: AdobeStock / Elnur

Editorial

(08.06.2020) Wir wissen immer noch wenig über die Pathogenitätsmechanismen von COVID-19 – und warum sie sich im Einzelfall so unberechenbar äußern. Fast noch unklarer ist, welche Folgeschäden bleiben könnten.

Ob die Vokabel „Risikogruppe“ zum Unwort 2020 nominiert wird? Risikogruppe – darunter fallen die wenigen Alten und Kranken, die gar nicht mehr richtig am gesellschaftlichen Leben teilhaben können; diejenigen, die an COVID-19 sogar sterben können. Für den „ganz normalen“ Menschen aber gilt: Es droht nur eine Art schlimme Erkältung mit Husten und Fieber.

Gut gelaunt zur Beatmung

Nein, das hier soll keine Glosse und kein Kommentar werden – daher von nun an ohne Sarkasmus: Tatsächlich wäre es ja eine gute Nachricht, falls sich rückblickend herausstellen würde, dass die Mehrheit der Erkrankten COVID-19 ohne größere Komplikationen übersteht und wieder vollständig gesundet. Bei rund achtzig Prozent der Betroffenen scheint das nach derzeitigem Stand auch der Fall zu sein. Andererseits waren typische Veränderungen der Röntgendichte innerhalb der Lunge schon in Wuhan ein wichtiges Leitkriterium für die Diagnose von COVID-19. Fibrosen, bei denen funktionelles Lungengewebe durch Bindegewebe ersetzt wird, können schnell zur Langzeitfolge solch einer viralen Lungenentzündung werden.

Editorial

Ebenso mehrten sich die Hinweise, dass SARS-CoV-2 zudem womöglich Organe jenseits der Atemwege befällt. Zwischen „mild“ und „tödlich“ bleiben offenbar viele Graustufen und Variationen, sodass inzwischen keine seriöse Stimme mehr fordert, doch einfach auf den natürlichen Aufbau einer Herdenimmunität zu vertrauen und allein die „Risikogruppe“ bis dahin zu isolieren. Viel drängender stellt sich inzwischen die Frage nach Komplikationen und möglichen Langzeitschäden auch bei klinisch zunächst unauffälligen Verläufen. Kann das Virus gar bei „milden Fällen“ Spuren im Körper hinterlassen?

Tückisch scheint dabei, dass ein Betroffener häufig gar nicht bemerkt, wie ernst es um ihn steht: In den ersten Tagen mögen nur leichte Symptome wie Halsschmerzen und vielleicht erhöhte Temperatur auftreten. Nach einer Woche setzt dann der Husten ein, womöglich noch immer ohne größere Beeinträchtigung. Häufig finden die Patienten noch selber den Weg ins Krankenhaus und sind guter Dinge – wenige Stunden später müssen sie beatmet werden.

Notfallarzt Richard Levitan aus Littleton berichtete am 20. April über solche Fälle – in einem Beitrag, den er für die New York Times verfasst hatte. Er habe COVID-19-Patienten gesehen, deren Sauerstoffsättigung beim Eintreffen kaum noch mit dem Leben vereinbar gewesen sei – und doch hätten sie noch ihr Handy benutzt, kurz bevor sie dann intensivmedizinisch aufgenommen wurden. Levitan spricht von einer „Silent Hypoxia“, einer unbemerkten Sauerstoffunterversorgung. Offensichtlich ist die Funktionalität der Lunge dabei zwar stark eingeschränkt, doch ohne dass sich größere CO2-Volumina ansammeln. Dadurch entsteht subjektiv kein Gefühl von Atemnot; vielmehr gleichen die Betroffenen den Sauerstoffmangel lange Zeit unbewusst durch eine erhöhte Atemfrequenz aus, ohne sich schlechter zu fühlen.

Auch Ärzte vom Uniklinikum Oslo stellten im April einen Fallbericht zur „Stillen Hypoxie“ vor (Tidsskr. Nor. Laegeforen 140(7), doi: 10.4045/tidsskr.20.0299). Ein Mann in den Sechzigern habe sich nach seinem Skiurlaub krank gefühlt. Ihm selbst kamen die Symptome offenbar nicht schlimm vor, denn es waren Familienangehörige, die die Ärzte kontaktiert hatten. Ihren Patienten beschreiben die Autoren als ruhig und gut gelaunt. Doch seine Atemfrequenz lag bei 36 Atemzügen pro Minute und war somit um das Zwei- bis Dreifache erhöht. Als Sauerstoffsättigung des Blutes hatten die Ärzte 66 Prozent ermittelt – normal sind mindestens 95 Prozent. Wenig später stieg die Atemfrequenz auf 48 an, und er musste schließlich intubiert und beatmet werden.

Wenn Tauchern die Luft wegbleibt

Wie Richard Levitan warnen auch die norwegischen Autoren davor, scheinbar milde Symptome zu unterschätzen. Levitan rät dazu, in jedem Fall die Sauerstoffsättigung zu messen – eine simple Methode, um auch ohne CT und großen Aufwand mögliche kritische Verläufe frühzeitig zu erkennen.

Dass auch junge und sportliche Menschen nachhaltig durch COVID-19 geschädigt werden könnten, berichtet Frank Hartig im Taucher-Fachmagazin Wetnotes (Ausgabe 36). Hartig ist leitender Oberarzt am Innsbrucker Uniklinikum und auch als Taucharzt tätig. Sechs Taucher hatte er kürzlich untersucht, die mit SARS-CoV-2 infiziert waren. Im CT seien die typischen Veränderungen der Lunge sichtbar gewesen. „Interessant war und ist, dass es eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen den Befunden und dem Empfinden der Patienten gibt“, schreibt Hartig in seinem Beitrag – was sich mit oben genannten Fallberichten deckt.

Nach fünf bis sechs Wochen haben sich die nun augenscheinlich genesenen Taucher erneut in Innsbruck untersuchen lassen. Noch immer, so schreibt Hartig im Artikel, zeigten zwei bei Belastung eine deutliche Sauerstoff­unterversorgung. Vier der sechs Taucher hätten jetzt noch „eindrucksvolle Lungenveränderungen“ im CT.

Veränderungen auch ohne Symptome

Auf Nachfrage teilt uns Hartig mit, dass die von ihm untersuchten Taucher eine schwere COVID-19-Lungenentzündung hatten. Jedoch sei deren Erkrankung in dem Sinne „relativ mild“ gewesen, als dass kein stationärer Aufenthalt notwendig gewesen war. „Über Langzeitschäden wissen wir noch nichts“, räumt Hartig ein, doch bei einigen Veränderungen, die man derzeit sehe, sei nur schwer vorstellbar, dass sie vollständig ausheilen. „Es läuft gerade an unserer Uniklinik für Innere Medizin eine prospektive Studie zu Folgeschäden nach COVID-19-Infektionen“, gibt Hartig einen Ausblick.

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3D-Volumengraphik nach computertomographischer Analyse der Lungen eines COVID-19-Patienten. Manche Spezialisten befürchten, dass die milchglasartigen Trübungen sich zu irreversiblen fibrotischen Veränderungen des Lungengewebes ausweiten können. Foto: Peng Liu, Hunan Normal University

Dass sich auch bei subklinischen Patienten die Lunge verändern kann, berichten Shohei Inui und Kollegen aus Japan. 104 Infektionsfälle im Alter zwischen 25 und 93 Jahren hatten die Forscher untersucht. Sie alle waren Passagiere des Kreuzfahrtschiffes Diamond Princess, das im Februar in Japan unter Quarantäne stand und damit unfreiwillig zu einem Versuchslabor wurde. 73 Prozent der Patienten waren asymptomatisch – von diesen jedoch entwickelte rund die Hälfte dennoch Trübungen auf der Lunge im Röntgenbild. Allerdings war der Schweregrad von CT-Veränderungen geringer als bei den symptomatisch Erkrankten; letztere hatten zudem in achtzig Prozent der Fälle auffällige Befunde (Radiol. Cardiothorac Imaging 2(2), doi: 10.1148/ryct.2020200110).

Lungenschäden könnten bleiben

Auch bei symptomfreien Verläufen kommen also immer wieder messbare Veränderungen vor, die sich in der Lunge oder der Sauerstoffsättigung zeigen. Ebenso können augenscheinlich genesene Patienten noch Wochen später Lungenveränderungen im CT aufweisen. Zumindest im Fall der sechs Tauchsportler dürfte unwahrscheinlich sein, dass deren Lungen schon vor COVID-19 geschädigt waren – denn offensichtlich war deren Tauchtauglichkeit in der Vergangenheit ja festgestellt worden. Über wirkliche Langzeitschäden lässt sich aber bislang nur spekulieren, denn schließlich kennen wir COVID-19 erst seit einem knappen halben Jahr.

Nun gab es schon 2002 und 2003 mit SARS-CoV-1 ein genetisch ähnliches Coronavirus, das ebenfalls Lungenschäden hervorrufen konnte. Erst kürzlich veröffentlichten Pekinger Forscher um Peixun Zhang Ergebnisse einer Follow-Up-Studie aus einer Beobachtungszeit von 15 Jahren (Bone Res. 8: 8). Die Wissenschaftler hatten in dieser Zeit mehr als siebzig Patienten begleitet, die SARS zuvor überlebt hatten. Deren Lungenschäden verbesserten sich vor allem innerhalb des ersten Jahres. Zwischen 2004 und 2018 jedoch konnten die Autoren kaum noch Heilungsprozesse nachweisen; Läsionen, die nach einem Jahr noch sichtbar waren, blieben also in den meisten Fällen auch weiter bestehen oder heilten nur unwesentlich weiter aus.

Zurück zu COVID-19: Die neue Coronavirus-Variante soll auch in der Lage sein, andere Organe als die Lunge zu befallen. Über Riechverlust und mögliche Beteiligung des zentralen Nervensystems hatten wir bereits online berichtet (siehe laborjournal.de/editorials/1990.php oder laborjournal.de/editorials/1975.php). Auch das Endothel der Blutgefäße soll das Virus angreifen und so Thrombosen auslösen können. Ebenso scheint regelmäßig die Niere in Mitleidenschaft gezogen.

Jenseits der Lunge

Erst kurz vor Redaktionsschluss haben Forscher unter Federführung des Nephrologen Tobias Huber vom Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf Ergebnisse hierzu bekanntgegeben, an denen auch der Pathologe Klaus Püschel mitgearbeitet hat. Die recht knappe Mitteilung zu den Autopsie-Befunden von 27 an COVID-19 verstorbenen Patienten ist vorab online im New England Journal of Medicine erschienen (doi: 10.1056/NEJMc2011400). Die Autoren bestimmten die Virenlast in Lunge, Rachen, Herz, Leber und Gehirn – und fanden die meisten Virus-Partikel in den Atemwegen. Darüber hinaus zählen aber offenbar die Nieren zu den bevorzugten Zielen des Erregers, was konsistent ist mit den Berichten über Nierenschäden bei COVID-19-Patienten.

Myokarditis eher selten

Dass Erkältungsviren auch andere Organe befallen können, ist eigentlich keine neue Erkenntnis. So findet Karin Klingel, Leiterin der Kardiopathologie und Infektionspathologie an der Uniklinik Tübingen, zum Beispiel regelmäßig Coxsackie-Viren in Biopsien von Herzgewebe. Solche Viren können nämlich nicht nur Erkältungen, sondern auch eine Herzmuskelentzündung auslösen – mit schlimmstenfalls tödlichen Folgen, falls man den Infekt nicht ordentlich auskuriert (laborjournal.de/editorials/1276.php).

Klingel hatte auch im Zusammenhang mit SARS-CoV-2 damit gerechnet, ähnliche Befunde zu bekommen. Ganz unerwartet stellt sie aber fest: „Ich hatte aktuell nicht einen Patienten mit einer typischen lymphozytären Myokarditis, die sicher alleine auf eine SARS-CoV-2-Infektion zurückzuführen war.“ Bislang, so Klingel, habe sie Material von rund zwanzig lebenden Patienten und etwa ein Dutzend Biopsien Verstorbener auf kardiologische Veränderungen hin untersucht. „Ich will nicht ausschließen, dass SARS-CoV-2 auch eine lymphozytäre Myokarditis verursachen kann“, stellt sie klar, „aber wenn, scheint das eher selten der Fall zu sein.“

Klingel sieht mit Sorge auf die Flut von Veröffentlichungen, die derzeit rund um COVID-19 erscheinen. Denn häufig seien die Ergebnisse nicht sorgfältig aufbereitet. Dass man wichtige Beobachtungen hierzu schnell bekanntmacht, findet sie grundsätzlich richtig. „Aber dann muss man es als Einzelfallbericht kenntlich machen und darf das nicht verallgemeinern.“

Kritisch sieht sie auch die Daten, die jetzt aus Hamburg erschienen sind. Schließlich habe Püschels Team viel mehr Verstorbene obduziert, als im Paper erwähnt werden. „Anstatt die alle aufzuarbeiten, nimmt man jetzt 27 heraus.“ Was sie auf den bislang veröffentlichten Bildern sieht, überzeuge sie nicht. „Es wird gesagt, dass das alle Organe betrifft, doch wir sehen das hier bei uns nicht und können das nicht bestätigen“, wundert sich Klingel.

Sorgfalt zählt

Ein mögliches Problem: Bei schweren Infektionen werden Viren manchmal kurz vor dem Tod in alle möglichen Organe gespült. Solch eine „Virämie“ habe sie im Zusammenhang mit COVID-19 auch schon gesehen, so Klingel. Doch es reiche nicht, einen Erreger in einem Organ wie der Leber nachzuweisen. „Ich muss doch erst noch zeigen, dass sich das Virus auch in Leber-spezifischen Zellen befindet und sich dort repliziert.“

Für Klingel bleibt daher ein recht ernüchterndes Fazit: „Man weiß noch nicht viel und muss allen Fragen sorgfältig nachgehen; deshalb halte ich nichts von Schnellschüssen.“ Leider, so stellt Klingel weiter fest, sei das Virus sehr infektiös. „Das Social Distancing müssen wir daher wohl noch eine ganze Zeit lang aufrechterhalten.“

Und was sagen die Betroffenen, die wirklich mitreden können – weil sie COVID-19 selber durchgemacht haben? Nicht repräsentativ, aber ganz persönlich hat der Autor dieses Beitrags über Rückmeldungen aus dem Bekanntenkreis fünf Personen ausfindig gemacht, die im März erkrankt und per PCR-Test bestätigt worden sind. Alle von ihnen waren zuvor gesund und berufstätig – und somit nicht Teil der klischeehaften „berenteten Risikogruppe“. Zwei waren fast symptomfrei, die drei anderen hingegen lagen flach wie bei einer Grippe. Die Älteste unter ihnen, eine 61-jährige Frau, musste sogar kurzzeitig stationär im Krankenhaus behandelt werden. Drei der Betroffenen haben noch immer eine Beeinträchtigung beim Riechen und Schmecken.

„Freiwillig würde ich das nicht noch einmal mitmachen wollen“, erzählt eine 39-jährige Frau mit einem recht typischen, „lediglich“ grippeähnlichen Verlauf, die sich zu Hause auskurieren konnte. Sie habe allerdings jetzt, zwei Monate nach dem positiven Test, immer noch mit Kurzatmigkeit und Erschöpfung nach kurzen Belastungen wie Treppensteigen zu tun.

Belastung auch ohne Virus

Fest steht wohl, dass die Lunge zwar nicht der einzige, aber doch ein klarer Angriffspunkt für das neue Coronavirus ist. Über eine verminderte Sauerstoffsättigung sowie höhere Atem- und Herzfrequenz kann dann aber das gesamte Herz-Kreislauf-System belastet werden – selbst wenn das Virus nicht direkt dort hingelangt. Eigentlich sollte das schon ausreichen, um nicht leichtfertig mit dieser Pandemie umzugehen. Auch oder gerade weil wir noch nicht viel über SARS-CoV-2 wissen.



Letzte Änderungen: 08.06.2020