Tierisch geforscht

Juliet Merz


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Schmerzfreie Nachbarschaft: Die Highveld Mole-Rat ist gegen das Gift der Natal-Droptail-Ameisen immun. Foto: Dewald Kleynhans

Editorial

(08.12.2019) Neue Tiermodelle eröffnen neue Forschungsfelder – nur muss man die teils kuriosen Organismen erstmal aufspüren und dann auch noch kultivieren. Oder nicht?

Maus, Fliege, Wurm und Co. dominieren Forschungslabore weltweit – aus guten Gründen. Die Tiermodelle sind bestens charakterisiert, und die Forschung an gleichen Organismen bietet eine gewisse Vergleichbarkeit der Ergebnisse. Jede Art hat spezifische Vorteile, dennoch haben die konservativen Modellorganismen einiges gemein: Von ihnen gibt es die unterschiedlichsten Mutanten, und sie haben eine vergleichsweise kurze Lebensdauer sowie Generationszeit. Außerdem sind ihre Zucht- und Haltungsbedingungen denkbar einfach und etabliert.

Dennoch hat es Vorteile, sich als Forscher an eher unübliche Modellorganismen heranzuwagen, wie Wallace Marshall von der University of California in San Francisco in einer Publikation schreibt: „But it was always appreciated that the major model organisms, while convenient for studying many aspects of biology, weren’t necessarily the best systems for all possible questions“ (BMC Biol. 15: 55). Als Beispiel nennt Marshall etwa die fehlende Regenerationsfähigkeit der konservativen Tiermodelle oder die geringe Abdeckung der Artenvielfalt.

Editorial
Außergewöhnliche Eigenschaften

Um eine Lanze für ungewöhnliche Tiermodelle in der biomedizinischen Forschung zu brechen, organisierten das Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) und die Europäische Organisation für Molekularbiologie (EMBO) im September dieses Jahres den Workshop „Beyond the Standard: Non-Model Vertebrates in Biomedicines“. Bei der Veranstaltung trafen Forscher aus über zwanzig Ländern zusammen, um sich darüber auszutauschen, mit welchen ungewöhnlichen Tiermodellen sie arbeiten und welche biomedizinischen Probleme sie damit lösen möchten.

Mit dabei waren Forscher wie etwa der US-amerikanische Entwicklungsbiologe Ashley Seifert, der an der University of Kentucky untersucht, wie afrikanische Stachelmäuse der Gattung Acomys bis zu sechzig Prozent ihrer Haut regenerieren können. Oder der israelische Neuroökologe Yossi Yovel von der Tel-Aviv University, der die Echolot-Orientierung von Fledermäusen erforscht.

Ein ebenfalls außergewöhnliches Projekt aus Übersee stellte Leslie Leinwand vor: An der University of Colorado forscht die Entwicklungsbiologin an Tigerpythons (Python molurus). Denn nachdem das Reptil seine Beute verschlungen hat, vergrößert sich sein Herz signifikant, was in der Medizin unter dem Begriff Herzhypertrophie bekannt ist. Auch beim Menschen kann das Herz an Größe zunehmen, etwa bei körperlicher Betätigung oder einer Schwangerschaft. Dieser Prozess ist eigentlich vollständig reversibel, bei einer pathologischen Herzhypertrophie bleibt das Organ jedoch vergrößert und es kann zu erhöhtem Blutdruck, Aortenklappenstenosen oder chronischen adrenergen Rezeptorstimulationen kommen. Die Tigerpython ist als Modellsystem deshalb so interessant, weil sich die Herzhypertrophie innerhalb von zehn bis fünfzehn Tagen vollständig zurückbildet und bedingt durch die Nahrungsaufnahme viel regelmäßiger auftritt als beispielsweise bei Schwangerschaften.

Aber auch in Deutschland finden sich ungewöhnliche Tiermodelle in den Forschungslaboren wieder. Etwa bei Ralph Oliver Schill an der Universität Stuttgart. Dort forscht der Zoologe seit 16 Jahren an einer besonders robusten Tierart, die er während seiner Promotion ganz zufällig kennengelernt hatte: „Es war während eines Waldspaziergangs in Tübingen, als ich mir einige kleine Zweige und Moose in die Jackentasche gesteckt hatte, ohne zu wissen, was ich überhaupt damit wollte“, erinnert sich Schill. Nachdem die Mitbringsel nach längerer Zeit in einem Regal schon fast in Vergessenheit geraten waren, legte Schill den mittlerweile verdorrten Moosfetzen in eine kleine Schale voll Wasser und betrachtete ihn unter einem Binokular. Nach kurzer Zeit kroch zwischen den Mooszweigen ein kleines Wesen hervor und schaute den Forscher förmlich mit seinen dunklen Augenpunkten an – ein Bärtierchen (Tardigrada).

Einzigartig im Tierreich

„Der Grund, warum wir Bärtierchen letztlich als Modellorganismus gewählt haben, ist ihre Fähigkeit, Trockenheit und Gefrieren unbeschadet zu überstehen“, so Schill. „Das kann kein anderes Tier so gut wie die Bärtierchen.“ 2007 hatten die Forscher die kleinen Wasserbären getrocknet in einer Kapsel mit einer Rakete ins All geflogen. Den Weltraum-Spaziergang überlebten die Tiere problemlos. „Während die Bärtierchen getrocknet quasi im Stand-by-Modus sind, altern sie nicht“, beschreibt der Zoologe ihre Relevanz in der Alterungsforschung. „Diese sogenannte Dornröschen-Hypothese können wir nicht mit Freiland-Tieren untersuchen, wir brauchen einen Organismus, der sich im Labor kultivieren lässt.“

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Die Bärtierchen-Gattung Macrobiotus tummelt sich gerne in Moospolstern. Foto: Ralph Schill

Die Haltung der Wasserbären im Labor hatte Schill zu Beginn seiner Bärtier-Forschung vor eine große Hürde gestellt. „Es war beispielsweise nicht bekannt, welche Temperatur die Eier für die Entwicklung brauchen oder was sie fressen. Bei Letzterem habe ich mich bei den Kulturen für den biologischen Anfängerkurs an der Universität bedient und einfach ein paar Nahrungsangebote ausprobiert“, so Schill – mit Erfolg. Denn die Bärtierchen-Art (Milnesium inceptum, bis 2018 Milnesium tardigradum genannt) aus Schills Labor frisst in jungen Jahren Algen, wird dann aber räuberisch und vertilgt Rädertierchen sowie Fadenwürmer. „Wenn man keine Informationen findet, beginnt das Abenteuer Forschung. Man arbeitet sich in eine Tiergruppe ein und nimmt Kontakt zu Kollegen auf.“

Zu Beginn waren Schills Kollegen aus der Drosophila- und Fadenwurm-Fraktion äußerst skeptisch: „Sie waren zwar der Meinung, die Bärtierchen seien äußerst spannend, aber als Modellorganismus nicht geeignet, weil sie sich nicht schnell genug vermehren.“ In der Tat schlüpfen Bärtierchen aus ihren Eiern je nach Temperatur und Art erst nach einer Woche bis zu zwei Monaten. „Und auch die Lebensspanne ist länger.“ Zudem gibt es noch keine Bärtierchen-Mutanten.

„Die Punkte sind zwar alle richtig, dennoch haben mich die Bedenken meiner Kollegen damals nicht abgeschreckt, an den Tieren zu forschen“, sagt Schill. „Es kommt ganz auf das Forschungsprojekt an, denn es gibt Fragen, die lassen sich schlicht nur mit Bärtierchen beantworten – wie etwa Fragen zur Trockentoleranz.“

Im Labor von Gary Lewin am Max-Delbrück-Centrum in Berlin haust derweil ein ganz anderer ungewöhnlicher Modellorganismus. Mithilfe des Nacktmulls (Heterocephalus glaber) möchten die Neurobiologen die somatische Sensorik von Lebewesen erforschen, also wie sie etwa Berührung oder Wärme, aber auch die Bewegung der Gliedmaßen oder Schmerzen spüren. Der Nacktmull eignet sich für diese Forschungsfragen besonders, denn er hat ein außergewöhnliches Schmerzempfinden – beziehungsweise, der Nager empfindet manche Schmerzen überhaupt nicht.

Im Jahr 2008 war Lewins Kollege Thomas Park von der University of Illinois in Chicago ganz zufällig darauf gestoßen, dass der Stoff Capsaicin (das Schmerz verursachende Alkaloid aus verschiedenen Paprika-Sorten) beim Nacktmull keinerlei Reaktion auslöste. „Normalerweise verursacht die Substanz bei Berührung mit der Haut einen kurzen brennenden Schmerz “, beschreibt Lewin die Auswirkung. Weil Park aber kein Schmerzforscher war beziehungsweise ist, wandte er sich an Lewin und flog mitsamt den Nagern nach Berlin. Zusammen erforschten Park und Lewin die Schmerzlosigkeit der Tiere. „Für mich war es erstmal ein kleines Sommerprojekt“, erinnert sich Lewin. „Aber als ich den Nacktmull genauer studiert habe, verstand ich, dass die Tiere sehr besonders sind.“ Mithilfe von Parks Erfahrungen und einem European Research Council Grant konnte Lewin die Nacktmull-Zucht starten.

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Im Labor von Gary Lewin haust ein außergewöhnliches Tier: der Nacktmull. Foto: Pablo Castagnola / MDC

„Damals war die Forschung an einem unbekannten Tiermodell schon sehr ungewöhnlich“, so Lewin. Heute realisierten die Forscher viel eher, dass sich nicht nur Maus und Co. als Forschungsobjekte eignen, sondern auch ungewöhnliche Modellorganismen dabei helfen würden, biomedizinische Fragen zu beantworten.

Förderung verwehrt

Dennoch sei es auch heute noch schwierig, Forschungsförderung bewilligt zu bekommen, wenn ungewöhnliche Tiere im Antrag stehen, sind Schill und Lewin einer Meinung. „Aus meiner Erfahrung kann ich berichten, dass schon mehrere meiner Anträge abgelehnt wurden, weil ungewöhnliche Organismen beteiligt waren“, so Lewin. „Doch ich merke, wie es zunehmend anerkannt wird. Häufig liegt es vermutlich gar nicht an den Organismen, sondern weil es sich einfach um ein neues Forschungsfeld handelt.“ Schill vertritt eine ähnliche Meinung: „Ich glaube, es ist schwieriger, Forschungsförderung mit ungewöhnlichen Tiermodellen zu bekommen. Die bestehenden Tiersysteme bekommen recht viel Unterstützung, was aber nicht nur an den Systemen liegt, sondern auch an den Namen, welche die Förderung beantragen. Mit den klassischen Modellorganismen fahren die Forscher natürlich auf einer sichereren Spur.“

Im MDC-Nachbarlabor untersuchen Darío Lupiáñez und sein Team Gewebeproben eines ebenfalls ungewöhnlichen Tieres: Talpa occidentalis – einer spanischen Maulwurfart. „Die Tiere sind in meinem Heimatland weit verbreitet“, sagt Lupiáñez. Eine Besonderheit macht die Tiere für die Forschung interessant. Denn die Weibchen der Maulwürfe (und im übrigen aller Maulwurf-Arten weltweit) sind echte Hermaphroditen, sie besitzen sogenannte Ovotesten, also Gonaden, die Eierstock und Hoden vereinen. Die „Eierstöcke“ funktionieren ganz normal, sodass sich die Weibchen trotz des Hermaphroditismus’ geschlechtlich fortpflanzen können – ein Einzelfall im Säugetier-Reich. Die „Hoden“ können jedoch keine Spermien produzieren, dafür aber große Mengen an Testosteron. „Dadurch werden die Tiere aggressiver und sehr muskulös, was vorteilhaft ist, wenn man unter der Erde lebt und um Ressourcen kämpfen muss“, erklärt Lupiáñez, wie sich die Eigenschaft im Laufe der Evolution vermutlich durchsetzen konnte.

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Eine besondere Geschlechterrolle gibt es bei Maulwürfen, bei denen die Weibchen Hermaphroditen sind. Foto: Francisco David Carmona López
Geschlechterrolle im Blick

Lupiáñez und sein Team möchten mithilfe des Maulwurf-Modellsystems untersuchen, wie das Geschlecht im Laufe der Embryonalentwicklung entsteht. Denn zu Beginn der sexuellen Differenzierung entstehen die inneren und äußeren Genitalien durch eine komplexe genetische und hormonelle Kaskade ausgehend von einem bipotentialen Organ. Eine Störung in dem System kann viele Auswirkungen haben, von geringfügigen Veränderungen der Fortpflanzungsfunktion bis hin zur vollständigen Geschlechtsumkehr. „Diese Effekte können sogar im Erwachsenenalter auftreten“, weiß Lupiáñez.

Der Vorteil im Maulwurf-Modellorganismus ist seine bleibende Fortpflanzungsfähigkeit trotz der Intersexualität. „Das ist im Menschen und anderen Säugetieren in der Regel nicht der Fall.“ So bleibt der Maulwurf die einzige Art, die mit ihrer besonderen Geschlechter­rolle die Fragen von Lupiáñez und seinem Team beantworten kann.

Ein richtiger Modellorganismus im klassischen Sinn ist der Maulwurf trotzdem nicht. Denn: Es ist nahezu unmöglich, den Insektenfresser im Labor zu halten. „Die Tiere sind sehr territorial und reagieren auf Käfighaltung mit viel Stress, sodass sie sich nicht fortpflanzen“, berichtet Lupiáñez aus seinen gescheiterten Versuchen, Maulwürfe im Labor zu züchten.

Das Team hat deshalb eine andere Lösung gefunden: In Kooperation mit Forschern der Universität von Granada fährt die Gruppe etwa einmal im Jahr nach Spanien und fängt die Tiere mit speziellen Röhrenfallen. Lediglich die Weibchen kommen für Lupiáñez‘ Forschungsprojekt infrage – oder vielmehr ihre Embryonen, in denen die Forscher die Entwicklung des Geschlechts untersuchen können. „Mithilfe der neuesten molekularen Methoden brauchen wir nur sehr wenige Proben“, sagt Lupiáñez.

„Früher hat man limitiert durch die damaligen Technologien viel mehr Biomaterial oder Tiere für die Beantwortung einer Forschungsfrage benötigt“, kommentiert Lewin. „Durch das aktuelle Methodenrepertoire der Forscher muss man Tiere gar nicht mehr zwingend in großen Mengen im Labor selbst züchten.“ So ließen sich Forschungsfragen auch mit Tieren beantworten, die es nur in freier Wildbahn gibt, weil sie, etwa wie der spanische Maulwurf, im Labor gar nicht gezüchtet werden können. „Wir haben dieses Jahr eine Publikation in Science veröffentlicht, in der wir die Expressionsmuster von 12.000 Genen aus acht unterschiedlichen Arten der Nacktmull-Familie verglichen haben [Anm. d. Red.: 364: 852-9]. Wir haben pro Art lediglich drei Individuen für diese Analyse benötigt – das war vor zehn oder fünfzehn Jahren einfach nicht möglich“, ordnet Lewin ein. „Natürlich sind bei Tieren aus dem Feld aber auch teilweise mehr Variationen mit dabei – das kann je nach Frage problematisch oder vollkommen belanglos sein“, gibt Lewin zu bedenken.

Schmerzen ade

In einer Kooperation mit Kollegen aus Südafrika und Tansania untersuchen Lewin und sein Team einen in Südafrika vorkommenden Nager, der nah mit dem Nacktmull verwandt ist. Die Highveld Mole-Rat (Cryptomys hottentotus pretoriae) hat wie ihr Verwandter auch ein besonderes Schmerzempfinden. Senföl kann den unter der Erde lebenden Nagern nichts anhaben, obwohl diese Substanz für eigentlich alle Tiere ätzend und toxisch ist. Die Gruppe um Lewin hat nun herausgefunden, warum: Die Highveld Mole-Rat lebt mit Natal-Droptail-Ameisen (Myrmicaria natalensis) zusammen, die ein Gift zur Abwehr einsetzen, das dem Senföl sehr ähnlich ist (ebenfalls Science 364: 852-9).

Um das Zusammenleben zu ermöglichen, haben die Nager eine Immunität gegen die Stiche der Ameisen erlangt und die Schmerzen gegenüber dem Gift quasi ausgeschaltet. „Natürlich sind diese Ergebnisse ökologisch sehr interessant“, ordnet Lewin ein und ergänzt: „Aber besonders die molekularen Mechanismen dieser Schmerzabschaltung sind auch für die Biomedizin sehr spannend.“

Die immer besser werdenden Technologien ermöglichten es nicht nur, weniger Tiere für die Forschung zu benötigen, sagt Lewin, sondern Forschung auch nicht so kostenintensiv zu betreiben – ein Vorteil, von dem Länder mit geringeren Ressourcen profitierten. „Grundlagenforschung ist sehr aufwendig. Deshalb ist die Artenvielfalt beispielsweise in Afrika bislang kaum genutzt worden“, so Lewin. „Einfach weil die einheimischen Forscher wenig Geld haben.“ In der Studie mit der Highveld Mole-Rat haben Lewin und sein Team eng mit afrikanischen Forscherkollegen zusammengearbeitet: „Die Menschen vor Ort wissen zum Beispiel, wo wir die Tiere im Feld überhaupt finden“, beschreibt Lewin die Kooperation.

Nicht nur in Afrika, auch in Südamerika, Südost-Asien oder Australien schlummern Arten, die für die Forschung zukünftig sehr wichtig sein könnten. „Nur in Kooperation mit den Menschen vor Ort haben wir die Möglichkeit, in der Erschließung neuer Modellorganismen weiterzukommen. Aber nicht, indem wir dort nur Gewebe- oder Probensammlungen entnehmen“, gibt Lewin zu bedenken, „sondern indem wir in den Ländern forschen und damit Forschungsinfrastruktur aufbauen. Nur so können wir die Artenvielfalt entdecken und zukünftig für Forschungsfragen nutzen. Davon profitieren letztlich alle.“




Plattentiere  (Placozoa)

Bernd Schierwater, Institut für Tierökologie der Tierärztlichen Hochschule Hannover


Mit Placozoen lassen sich in der Biomedizin unter anderem fundamentale Fragen aus der Krebsforschung adressieren. Denn das Studium der genetischen Grundlagen der Entstehung und Bekämpfung von Krebszellen in Säugetieren ist schwierig und letztendlich so komplex, dass immer nur isolierte Einzelfragen beantwortet werden können.

Die Placozoen repräsentieren genetisch, anatomisch und physiologisch das cum grano salis bestmögliche tierische Modellsystem, um die prinzipiellen Genetiken hinter verschiedenen bösartigen Zellzyklusanomalien zu enträtseln.

Die üblichen Modellorganismen wie Maus und Co. sind einfach zu komplex auf allen Ebenen. Statt einem regulatorischen Gen in Placozoen gibt es in Bilateriern meist mehrere Homologe. Da die Anzahl möglicher genetischer Interaktionen exponentiell mit der Anzahl an involvierten Genen steigt, werden aus drei Jahren Forschungsansatz in Placozoen sehr schnell 300 Jahre Forschungsaufwand in Bilateriern. Und da ist die gesamte anatomische und zellbiologische Komplexität der höheren Tiere noch gar nicht einberechnet.

Wenn Sie beispielsweise die Fallgeschwindigkeit auf der Erde untersuchen wollen, kommen Sie schneller ans Ziel mit einer schlichten Glaskugel in einem fast luftleeren Raum im Vergleich zu einem Ansatz mit einem explodierenden Schlafzimmer mit Daunenbetten im Windsturm.




Seeanemone (Nematostella vectensis)

Frank Kühn, Institut für Physiologie des Universitätsklinikums Aachen


Studien an der Seeanemone können wichtige Erkenntnisse liefern, zum Beispiel bei Fragestellungen aus der Entwicklungsbiologie, der Stressantwort, der Chronobiologie sowie der Signaltransduktion. All diese physiologischen Vorgänge sind bei der Seeanemone im Prinzip bereits vorhanden, laufen jedoch auf einer weitaus weniger komplex regulierten Organisationsstufe ab. Deshalb können gerade in diesem Modellorganismus grundlegende Abläufe besser studiert werden.

Die Seeanemone verfügt, ungeachtet ihrer einfachen Anatomie, über ein ähnlich komplexes Genrepertoire wie wir Menschen. Bezüglich der Organisation des Genoms steht die Seeanemone uns Menschen sogar näher als andere Modellorganismen, wie beispielsweise die Taufliege oder der Fadenwurm.




Killifisch (Nothobranchius furzeri)

Dario Valenzano, Max-Planck-Institut für Biologie des Alterns in Köln


Killifische sind ein ideales Modellsystem, um viele Fragen aus unterschiedlichen Forschungsgebieten zu adressieren. Zum Beispiel können sie uns helfen zu verstehen, wie sich die Lebensspanne in der Natur bei eng verwandten Arten entwickelt hat, wie sich die Mikrobiota auf die Alterung von Wirbeltieren auswirkt oder wie Populationsengpässe und genetischer Drift die Entstehung von Genvariationen und dadurch verursachte altersbedingte Krankheiten in der Bevölkerung beeinflussen. Mit der Killifisch-Forschung können wir also grundlegende offene Fragen der Biologie des Alterns, der Mikrobiomforschung und der Evolutionsbiologie beantworten.

Der Killifisch hat einzigartige Merkmale, die ihn zu einem idealen Modell für die oben genannten Fragen machen. Dazu zählen etwa seine natürliche kurze Lebensdauer, mit der Experimente in einer angemessenen Zeit (Monate statt Jahre) durchgeführt werden können, oder seine natürliche Vielfalt der Lebensdauer bei unterschiedlichen Killifisch-Arten. Außerdem: Obwohl sie kurzlebige Wirbeltiere sind, teilen sie mit dem Menschen viele physiologische Merkmale (wie adulte Stammzellen, lymphozytenbasierte adaptive Immunität), die in anderen kanonischen Alterungsmodellorganismen wie etwa Hefen, Fadenwürmern und Fliegen fehlen.

Ich glaube nicht, dass es einen perfekten Modellorganismus gibt. Vielmehr gibt es gute Modelle, um konkrete Fragen zu stellen. Mit Fischen oder Wirbellosen lassen sich natürlich keine für Säugetiere spezifischen Fragen beantworten. Allerdings könnten wir viele Fragen aus unseren Forschungsprojekten im Prinzip auch mit Mäusen beantworten – mit Killifisch kommen wir jedoch schneller zur Antwort. Darüber hinaus spart die Killifisch-Forschung einige Kosten im Vergleich zu Mäusen: Denn Killifische benötigen weniger Platz und Zeit.



Letzte Änderungen: 08.12.2019