Editorial

Das kindliche Immunsystem ist schon in Alarmbereitschaft

Das Interview führte Karin Hollricher (14.9.21)


(12.10.2021) Irina Lehmann ist Leiterin der Arbeitsgruppe Molekulare Epidemiologie am Berlin Institute of Health (BIH) an der Charité und sucht mit ihren Kollegen nach den zellulären und molekularen Gründen dafür, dass SARS-CoV-2-Infektionen bei Kindern milder verlaufen als bei Erwachsenen. Im Interview spricht sie über die Ergebnisse und was man daraus lernen kann.

Laborjournal: Seit Beginn der Corona-Pandemie diskutieren wir darüber, ob und wie schwer Kinder erkranken. Was ist denn nun der Sachstand?

Irina Lehmann » Bei COVID-19 haben unsere Kinderärzte beobachtet, dass die allermeisten Kinder nur über wenige Tage mit mildem Fieber sowie typischen Erkältungssymptomen erkranken – wobei nur etwa die Hälfte der infizierten Kinder überhaupt Symptome zeigt. Das sind also deutlich schwächere Verläufe als bei Erwachsenen.

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Foto: BIH

Was weiß man bisher über die Gründe für dieses Phänomen?

Lehmann » Um das herauszufinden, haben wir Einzelzellen analysiert, und zwar von 42 Kindern und 44 Erwachsenen, die jeweils zur Hälfte infiziert beziehungsweise gesund waren. Dafür haben wir von allen Probanden Nasenabstriche genommen, davon die Zellen isoliert und das Transkriptom jeder einzelnen Zelle untersucht. Somit konnten wir für jeden Zelltyp feststellen, welche Gene an- oder ausgeschaltet sind.

Fanden Sie Unterschiede?

Lehmann » Die spannendsten Ergebnisse haben wir bei den gesunden Kindern gesehen. Bei diesen sitzen schon alle Immunzellen in der Nasenschleimhaut, also dem primären Infektionsort. Bei Erwachsenen fanden wir in den Nasenabstrichen fast nur Epithelzellen, bei Kindern etwa genauso viele Immun- wie Epithelzellen. Das kindliche Immunsystem in der Nase ist also schon vor einer SARS-CoV-2-Infektion aktiviert. Außerdem sind auch die vom Virus infizierbaren Epithelzellen in der Nase schon in einer Habachtstellung, sie haben eine voraktivierte antivirale Antwort.

Was bedeutet das?

Lehmann » In den Epithelzellen gesunder Kinder sind im Gegensatz zu denen erwachsener Personen Gene stark exprimiert, die für bestimmte Rezeptoren codieren. Die sogenannten „Pattern Recognition Receptors“, auf deutsch Mustererkennungsrezeptoren, erkennen virale RNA. Wenn das Virus in die Zelle gelangt, wird es sofort erkannt, und es folgt schnell eine Immunantwort.

Eine Immunantwort kann also direkt nach dem Erstkontakt beginnen. In Ihrer Publikation in Nature Biotechnology nennen Sie die Rezeptoren MDA5, RIG-I und LGP2 (doi: 10.1038/s41587-021-01037-9). Dies sind allesamt Moleküle, die RNA detektieren. Was passiert nach der Erkennung einer viralen RNA?

Lehmann » Es wird eine Signalkaskade ausgelöst, an deren Ende eine Interferon-Antwort steht, die das Virus eliminiert. Interessanterweise waren bei Kindern auch ohne SARS-CoV-2-Kontakt in den Nasenepithelzellen bereits eine Vielzahl sogenannter „Interferon-stimulated Genes“ angeschaltet, also Gene, die von Interferon aktiviert werden.

Sie schreiben, dass bei gesunden Kindern diese Interferon-stimulated Genes, kurz ISGs, stärker aktiviert seien als bei infizierten Erwachsenen. Wie groß sind die Unterschiede?

Lehmann » Sehr deutlich. Wir fanden bei den gesunden Kindern große Cluster von ISGs massiv exprimiert, die selbst bei infizierten Erwachsenen nur schwach angeschaltet waren. Alles in allem zeigten die Einzelzell-Analysen, dass Kinder nach Infektion im Allgemeinen sehr schnell eine effiziente Immunreaktion gegen SARS-CoV-2 entwickeln und damit besser gegen das Virus geschützt sind als Erwachsene.

Sind Kinder somit auch gegen andere RNA-Viren besser geschützt als Erwachsene?

Lehmann » Das kann man so nicht generalisieren. Viren haben unterschiedliche sogenannte Escape-Mechanismen, mit denen sie sich vor der Abwehrreaktion des Wirts schützen, den sie infizieren. SARS-CoV-2 ist ein sich extrem schnell vermehrendes RNA-Virus, das gleichzeitig sehr empfindlich gegenüber Interferon ist – viel empfindlicher als zum Beispiel Influenza. Für eine schnelle Immunantwort gegen das Virus müssen die Mustererkennungsrezeptoren aktiviert und eine Interferon-Antwort eingeleitet werden. Infiziert SARS-CoV-2 eine Zelle, überrumpelt es normalerweise dieses Frühwarnsystem, wodurch die Interferon-Antwort zumeist eher schwach ausfällt und das Virus sich massiv in der Zelle vermehren kann. Sehr interessante Ergebnisse gibt es dazu auch aus Zellkulturexperimenten: Infiziert man Lungenzellen mit SARS-CoV-2, schütten die in der Regel nur sehr wenig Interferon aus und das Virus vermehrt sich stark. Gibt man den infizierten Zellen allerdings Interferon von außen zu, vermehrt sich der Erreger viel schlechter. In unserer Publikation zeigen wir zudem, dass auch eine massive Aktivierung des Mustererkennungsrezeptors MDA5 die Zellen vor SARS-CoV-2 schützt. Das sind Ergebnisse, die unsere Kooperationspartner vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg beigesteuert haben.

Im Falle von SARS-CoV-2 sind bei Kindern also genau die richtigen Gegenspieler schon vor der Infektion aktiv, um das Virus sofort bekämpfen zu können. Somit kann der Abwehrmechanismus des Virus, nämlich die Interferon-Antwort zu verhindern, gar nicht mehr zum Tragen kommen. Wir glauben, dass das auch einer der Hauptmechanismen ist, der Kinder vor schweren Verläufen einer SARS-CoV-2-Infektion schützt.

Kennt man die Ursache dafür, dass Kinder diese Rezeptoren und die Interferon-Antwort auch ohne aktive Infektion stark exprimieren?

Lehmann » Dazu gibt es verschiedene Thesen. Einerseits wird diskutiert, ob Kinder möglicherweise eine andere Immunkonstellation haben als Erwachsene, sodass bei ihnen die angeborene oder unspezifische Immunantwort – zu der auch die Mustererkennungsrezeptoren und die Interferon-Antwort gehören – stärker ausgeprägt ist. Im Laufe des Lebens lernt das Immunsystem, und die adaptive, spezifische Immunantwort wird stärker. Das trägt sicherlich dazu bei, dass Kinder im Allgemeinen sehr schnell eine starke Interferon-Antwort entwickeln können. Wir glauben aber, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Es spielen vermutlich auch andere Faktoren eine Rolle – etwa der häufige Kontakt mit anderen Kindern in der Schule oder im Kindergarten. Wo sich viele Kinder treffen, sind viele Viren in der Luft. Das könnte eine Basisstimulation bewirken, sodass das kindliche Immunsystem fitter ist als das von Erwachsenen.

Was bedeuten Ihre Ergebnisse nun für die Impfung von Kindern?

Lehmann » Eine Impfung ist auf jeden Fall zu befürworten. Denn infizierte, aber häufig asymptomatische Kinder können das Virus auch unbemerkt weitergeben. Frisch angesteckt haben sie die gleiche Viruslast wie Erwachsene, nur reduziert sich diese schneller. Und wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass auch bei Kindern schwere Verläufe auftreten können.

Können Sie uns ein paar Zahlen nennen? Wie viele infizierte Kinder müssen in einer Klinik behandelt werden?

Lehmann » Nach den durch das European Center of Disease Prevention and Control (ECDC) veröffentlichten Zahlen erkrankt von 5.000 infizierten Kindern eines schwer. Bei anderen respiratorischen Viren wie zum Beispiel dem Respiratorischen Syncytial-Virus (RSV) ist der Anteil an schweren Verläufen insbesondere bei kleinen Kindern aber deutlich höher.

Haben denn sehr junge Kinder, die nicht geimpft werden können, auch schon eine vorgeprägte Immunantwort?

Lehmann » In unserer gerade veröffentlichten Studie zeigen wir Ergebnisse für Kinder zwischen vier und achtzehn Jahren. Die voraktivierte antivirale Aktivität haben wir bei allen Kindern gesehen, auch den jüngeren. Eine deutliche Altersabhängigkeit in der Stärke der Aktivierung der Gene für die Mustererkennungsrezeptoren war zum Beispiel nicht erkennbar. Allerdings war die Studiengruppe zu klein, um eine solche Aussage generell machen zu können. Einzelzell-Analysen sind leider immer noch so unglaublich teuer, dass es nicht möglich ist, größere Probandengruppen mit dieser Methode zu untersuchen.