Editorial

„Lebende Dokumente“ in der Leopoldina

Interview: Ralf Neumann


Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina wird 2019 ein radikal neues Publikationskonzept einführen: Die künftigen Artikel ihrer Zeitschrift Nova Acta Leopoldina (NAL) sollen fortlaufend anhand von Kommentaren und Ergänzungen überarbeitet werden – als sogenannte Living Documents. Wir sprachen darüber mit dem designierten Chief Editor der NAL, Diethard Tautz vom Max Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön.

Laborjournal: Seit einiger Zeit erneuert sich die Leopoldina als Nationale Akademie der Wissenschaften. Jetzt sollen ihre Publikationen an die Reihe kommen und mit einem völlig neuen Konzept an den Start gehen.

Tautz » Richtig. Die Runderneuerung der Leopoldina läuft jetzt schon seit zehn Jahren, also seitdem sie Nationale Akademie der Wissenschaften geworden ist. Im Zuge dessen waren auch immer schon ihre Publikationen ein Thema. Vor drei oder vier Jahren hat sich dann eine Kommission zusammengefunden, die eine Art Outline erstellt hat, wie die Publikationen neu aufgestellt werden könnten. Mitte des Jahres ist die Leopoldina dann mit der Frage auf mich zugekommen, ob ich das Ganze als Chief Editor – oder Director Ephemeridum, wie die Leopoldina das in langer Tradition nennt – übernehmen könnte.

hg_18_12_01a
Möchte „Leben“ in die Publikationen der Leopoldina bringen: Der neue Chief Editor Diethard Tautz Foto: MPI für Evolutionsbiologie

Hatte die Leopoldina-Kommission zu dem Zeitpunkt schon die Idee, ein neues Publikationskonzept zu entwickeln? Oder war das vielmehr Ihre Initiative?

Tautz » Bisher publiziert die Leopoldina ja im Wesentlichen deutsche Texte, und das weitgehend in Buchform mit begrenzten Auflagen. Das wollte die Kommission auf jeden Fall ändern: Online und auf Englisch publizieren, Open Access, freie Nutzung der Texte via Creative Commons License – das ganze Programm eben. Die Idee mit den Living Documents habe ich dann oben draufgesetzt, weil ich hier eine große Chance gesehen habe. Man bekommt schließlich selten die Rückendeckung einer großen Organisation und kann zugleich einen großen Sprung nach vorne machen. Das Gute war, dass die bis dahin tätige Kommission der Idee gegenüber wirklich aufgeschlossen war. Was gerade bei solch alterwürdigen Akademien nicht selbstverständlich ist.

Der Titel, den die Modernisierung betrifft, ist die Nova Acta Leopoldina, oder kurz NAL. Im internationalen Wissenschaftsgeschäft ist dieser gar nicht so sehr bekannt...

Tautz » Das stimmt. Bisher hat die NAL ein Schattendasein geführt. Auch weil sie im Rahmen ihrer langen Historie zuletzt hauptsächlich Tagungen mit den zugehörigen Manuskripten abgebildet hat. Das kam daher, dass das Hauptziel lange Zeit der Austausch mit anderen Akademien war – etwa nach dem Motto: Du schickst mir deine Publikationen, ich schick dir meine. Ein großer Impact kam auf diese Weise natürlich nicht zustande. Tatsächlich aber ist die NAL die älteste Wissenschaftszeitschrift der Welt, in zwei Jahren feiert sie ihren 350. Geburtstag. Und in gewisser Weise kehrt sie wieder zu ihrem Gründungsgedanken zurück, nämlich sich mit zusammenfassenden Artikeln Überblicke über ganze wissenschaftliche Felder zu schaffen.

Wie soll die „verstaubte“ NAL jetzt neu aufgestellt werden? Und was verbirgt sich hinter dem Kernkonzept der Living Documents, das oben bereits erwähnt wurde?

Tautz » Zunächst einmal soll die NAL eine Review-Zeitschrift bleiben. Und da die Leopoldina ja die Aufgabe der Politikberatung hat, soll sie nicht nur rein akademisch-wissenschaftliche Themen beinhalten, sondern insbesondere solche, die ins Politische reinreichen. Am Ende würden auf diese Weise quasi Referenzen aufgebaut, auf die sich die Politiker und auch Journalisten stützen und verlassen können. Und diese wären stets aktuell, da nach dem Konzept der Living Documents fortlaufend neue Erkenntnisse in die Artikel eingearbeitet werden – sowohl in Kommentarform als auch durch ständiges Um- und Weiterschreiben des Kerndokuments. Living Documents bedeutet also, dass die Artikel niemals fertig und ein für alle Mal abgeschlossen sind, sondern durchgehend als offene Diskussionsdokumente fungieren. Sicher hat der erste Autor, der das Dokument schreibt, seine Meinung. Die wird aber schon während des Review-Prozesses geprüft, um eine solide Darstellung zu bekommen. Nach der Publikation hat dann jeder die Möglichkeit, die Inhalte zu kommentieren. Und ab einem gewissen Punkt werden die Kommentare unter Beteiligung des zuständigen Editors in das Dokument eingearbeitet. Über die Zeit verändert es sich also auf diese Art – und wird laufend aktualisiert. Das soll dann auch im Namen dokumentiert werden, der zu NAL-live erweitert wird.

Das heißt, die Hauptstoßrichtung sind keine rein wissenschaftlichen Reviews, sondern es soll eher um wissenschaftliche Themen gehen, die auch gesellschaftlich und politisch relevant sind?

Tautz » Ja, das ist jetzt die erste Stoßrichtung, weil das auch bisher die Richtung der NAL war. Zudem finden ja auch die Konferenzen der Leopoldina nahezu ausschließlich zu breit diskutierten Themen statt – in der Biologie zuletzt etwa über CRISPR und Genome Editing. Es wird also schon um wissenschaftliche Themen gehen, aber insbesondere um solche, die aktuell in der politischen Diskussion sind. Wenn das neue Konzept hierbei gut angenommen wird, können wir die Reviews auch schnell auf reine Wissenschaft ausdehnen. Für Originalartikel wiederum wäre das Konzept natürlich sehr radikal, aber sicherlich nicht undenkbar. Das würde dann aber nicht mehr im Rahmen der NAL-live passieren, da müsste jemand anderer ran.

So ganz neu ist das Konzept der Living Documents aber nicht. Beispiel Lehrbücher: Die wurden zwar nicht fortgehend kommentiert, aber mit jeder Auflage umgeschrieben und aktualisiert. Oder anderes Beispiel: Die Wikipedia-Einträge unter dem Konzept des Crowd Knowledge.

Tautz » Genau, das ist eigentlich ein altes und selbstverständliches Konzept. Warum soll man daher weiterhin den berühmten Punkt ausgerechnet hinter wissenschaftliche Paper machen? Ursprünglich hatte es ja nur Archivierungsgründe, dass man solche Abschlüsse schafft, statt die Dokumente „weiterleben“ zu lassen. Doch die Archivierungsproblematik gibt es jetzt im Online-Zeitalter nicht mehr. Und wie Sie sagen: Wikipedia macht das ohnehin schon so – wobei da allerdings die echte wissenschaftliche Kontrolle fehlt. Diese Kontrolle muss letztlich eine langlebige wissenschaftliche Institution übernehmen.

Wo stehen Sie gerade mit dem Projekt?

Tautz » Wir sind gerade dabei, die Editoren zu rekrutieren – vor allem erstmal aus den Reihen der Leopoldina, die ja auch internationale Mitglieder enthält. Dabei stehen mir bereits Editoren als Repräsentanten der jeweiligen Leopoldina-Klassen zur Seite: Gerd Leuchs für Mathematik, Natur- und Technikwissenschaften, Alfred Wittinghofer für die Lebenswissenschaften, Ulf Eysel für die Medizin und Christine Windbichler für die Geistes-, Sozial- und Verhaltenswissenschaften.

Sie haben das Projekt inzwischen vorgestellt, Sie stellen bereits das Editorial Board zusammen,... Wie ist dabei die Resonanz auf das neue Konzept?

Tautz » Diejenigen, mit denen ich gesprochen habe, waren alle nach kurzer Zeit begeistert. Auch das Präsidium der Leopoldina ließ sich schnell von dem neuen Konzept überzeugen – insbesondere auch von dem Aspekt, dass es eine originäre Aufgabe für eine Akademie ist. Natürlich müssen wir sehen, ob das genauso ist, wenn wir noch mehr in die Breite gehen. Aber ich bin sehr optimistisch und werde mich auch entsprechend reinhängen.

Kommen wir zur Rolle der Autoren. Im aktuellen System streichen Wissenschaftler den Löwenanteil ihres Credits über Autorenschaften beziehungsweise den daraus resultierenden Zitierungen ein. Könnte das zum Problem werden, da ja bei den Living Documents der klassische Autorenstatus bewusst aufgeweicht wird?

Tautz » Oh ja, da wird es sicherlich noch Diskussionen geben. Das radikal Neue ist ja, dass das Dokument selbst im Zentrum steht – und nicht der oder die Autoren. Natürlich werden die Autoren weiter genannt, aber sie sammeln sich über die Zeit an dem Dokument an, da auch die Kommentatoren eine Art Autor-Funktion bekommen. Ich habe da schon eine Idee, wie man das über gestaffelte Zuordnungen regeln könnte, sodass die Leute ihre jeweiligen Beiträge in ihrer CV auch nennen können. Hierfür ist natürlich wichtig, dass in den Dokumenten genau abgebildet wird, wer was beigetragen hat. Die entsprechenden Strukturen werden wir natürlich schaffen.

Und wie steht es mit den Zitierungen? Wer darf sich die am Ende wie zurechnen?

Tautz » Das wird natürlich besonders spannend. Eigentlich kann man ein solches Living Document nicht mehr traditionell nach Erstautor et al. zitieren. Das müsste man dann nach dem Titel zitieren, wie das ja bereits bei großen Genomik-Papern oder Klinischen Studien praktiziert wird. Und wer weiß, vielleicht können wir auf diese Weise auch ein wenig daran mitwirken, die Zitierkultur an sich zu verändern – was viele ja sowieso für dringend nötig halten.

Apropos Kultur: Die Kultur des wissenschaftlichen Publizierens wurde zuletzt stark durch die Verlage bestimmt – und das durchaus nicht nur positiv. Wird die Leopoldina bei dem Projekt mit einem Verlag zusammenarbeiten?

Tautz » Ja, es gibt da Anfangsgespräche. Aber unser Ziel ist eigentlich, das wissenschaftliche Publizieren wieder zurück in die Hände der Wissenschaftler zu geben. Insgesamt wird das immer wichtiger – auch, weil sich die Streitigleiten mit den Wissenschaftsverlagen wie Elsevier und Co. gerade extrem zuspitzen. Aus diesem Grund bin ich beispielsweise auch bei eLife aktiv, wo genau diese Idee dahinter steht. Und nicht zuletzt deshalb habe ich die Hoffnung, dass wir letztlich das eLife-Publikationssystem für NAL nutzen können, das ja spezifisch für das Publizieren durch Wissenschaftler geschrieben wurde. Momentan hat es zwar noch einige „Wackelpunkte“ – aber ich bin optimistisch, dass wir das hinkriegen.

Haben Sie selbst auch schon einen Review für NAL-live im Blick, mit dem Sie quasi als gutes Beispiel vorangehen könnten?

Tautz » (Lacht) Ich habe tatsächlich mehrere im Blick. Aber ich weiß nicht, ob es politisch korrekt wäre, wenn ich das als Chief Editor gleich am Anfang machen würde. Ich muss mal abwarten, wie das mit den Editoren anlaufen wird. Überdies haben wir auch schon bei ein paar potenziellen Autoren zu konkreten Themen angefragt. Etwa zu Themen wie CRISPR, Gentechnik oder auch, wie es mit Glyphosat tatsächlich aussieht. Der Stein ist also bereits ins Rollen gebracht – potentielle Autoren können sich gerne bei mir melden...



Letzte Änderungen: 29.11.2019