Editorial

Verrückter Montag

Aus dem Tagebuch einer Jungforscherin

Karin Bodewits


Jungforscherin

„Bitte nicht scannen!“ krächzt die Frau vor mir an der Supermarktkasse aufgebracht zum Kassierer, als der gerade den ersten Artikel über den Scanner ziehen will.

Er schaut zu ihr, dann kurz auf seine Uhr, dann wieder zurück zu ihr. Seine Augen sind weit aufgerissen, als wollte er sicherstellen, dass sie es ernst meint... ZU DIESER TAGESZEIT!

Wir befinden uns hier allerdings in einem Bioladen der Sorte „Mehr-Birkenstock-geht-nicht“, dem einzigen Supermarkt in der Nähe des Campus. Die Frau wird keine Gnade zeigen, da bin ich sicher. Der Kassierer seufzt, zuckt mit den Achseln und sieht mitleidig auf die Schlange hinter mir. Unmotiviert dreht er das Säckchen Biohirsehörnchen herum, und tippt jede einzelne Zahl unter dem Barcode in seine Kasse. Er zumindest wird pro Stunde bezahlt. Ich schaue auf das Förderband, auf dem mindestens dreißig Artikel von ihr liegen. Ich betrachte meine Uhr und bereue es augenblicklich, dass ich mir noch schnell ein Frühstück holen wollte. Ich werde definitiv zu spät zu meinem Lab Meeting kommen – und kann es mir natürlich abschminken, dass ich es davor noch schaffen werde, meine Zellen aus dem Inkubator zu nehmen.

Ich schaue mich nach einem Ausweg um, doch bin ich zwischen „Laser-Looney“ und einem Kinderwagen eingepfercht, in dem ein Einjähriger gerade versucht sich zu strangulieren, um an ein paar Süßigkeiten heranzukommen. Das Kind wird von Sekunde zu Sekunde unruhiger und selbst ein Laie kann abschätzen, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis er aus voller Kehle brüllt. Ich kenne das Kind sowie seinen großgewachsenen Vater. Abgesehen von einem freundlichen Gruß am Morgen im Institut unterhalten wir uns normalerweise nicht, obwohl wir manchmal im selben Zugabteil sitzen. Der Kinderwagen hat eine Flagge von der Instituts-Kita. „Bio-Kids“ steht darauf in farbigen Buchstaben – ein Name, der in mir das Bild von sabbernden Kleinkindern weckt, die an einem Tisch sitzen und Frösche sezieren. Der Papa hat zwei Pfund Naturjoghurt und ein Kilo Beerenmüsli auf das Band gestellt. Offensichtlich ist auch er nur kurz in den Laden gehuscht, um sich ein Frühstück zu holen.

Seine Augen wandern nervös zwischen seiner Uhr, der tickenden Zeitbombe in seinem Buggy und dem lähmenden Vorgang an der Kasse hin und her. Sein Sohn macht nun einen noch lauteren und überzeugenderen Versuch, sich freizukämpfen. Ich nehme schnell meine Brezel vom Band und stecke ihm ein Viertel davon in die gierige Hand. Augenblicklich lehnt er sich zurück, kaut auf der Brezel herum und streckt mir die andere Hand entgegen. Als er auch noch seine tränenunterlaufenen Augen auf mich richtet, reiche ich ihm ein weiteres Viertel der Brezel. Mit meinem halben Frühstück in seinen Händen scheint er vorübergehend zufriedengestellt zu sein.

„Das hat den Supermarkt gerettet“, lacht sein Vater.

„Und meine Ohren“, witzele ich.

Laser-Looney hat den Kassierer mittlerweile in eine Diskussion verwickelt. Sie findet es unangenehm, dass die vegetarischen Würstchen „Würstchen“ genannt werden. Warum denn überhaupt Produkte im Sortiment seien, die sie an die unnötige Grausamkeit erinnern, die wir den Tieren täglich antun?

Allzu gerne würde ich sie darauf hinweisen, dass das Wort „Wurst“ eine germanische Wurzel hat und so viel bedeutet wie „etwas vermischen“. Es erscheint mir daher als ein völlig angemessener Begriff für eine Gemüse-Fett-Salz-Gewürzmischung, die uns von Textur und Geschmack an die Fleisch-Variante erinnern soll – doch bin ich nicht in der Laune, mit ihr die Ethymologie des Begriffs „Wurst“ zu diskutieren.

Naturgemäß kann sich der Kassierer nicht auf seine Arbeit konzentrieren, während er dieses belanglose Gewäsch über sich ergehen lassen muss und vertippt sich mehrfach.

„Ich bin spät dran, könnten Sie den Kassierer wenigstens nicht auch noch ablenken?“, frage ich genervt von hinten.

Laser-Looney wirft mir einen irritierten Blick zu.

„Ist der Scanner kaputt?“, fragt der Papa.

„Nein, aber die Dame möchte nicht, dass gescannt wird.“ Ich spreche meine Worte langsam und deutlich aus und verstecke den Unterton nicht, der ihren geistigen Zustand in Frage stellt.

„Sie will keinen Scanner?“, bricht es aus ihm heraus, als hätte ich ihm eröffnet, dass seine Mutter mit seinem Chef knutscht. Laser-Looney dreht sich zu uns um.

„Auf diese Weise erspare ich Ihrem Sohn eine Menge Strahlung“, zischt sie mit einem Gesichtsausdruck, als könnte sie gar nicht glauben, wie sehr der Rabenvater hinter ihr die Gesundheit seines Sohnes vernachlässigt. Ohne auf eine Antwort zu warten, dreht sie sich wieder um.

„Haben Sie ’nen Schlag?“, fragt er.

„Klar doch“, beteilige ich mich, als sei das die trivialste Frage aller Zeiten.

„Wenn Sie meinen Sohn vor harmloser Strahlung schützen wollen, dann sollten Sie ihn nicht eine Viertelstunde hinter dem Smartphone in Ihrer Gesäßtasche warten lassen.“

Sie dreht sich zu ihm herum und funkelt ihn an: „Es steht auf Flugmodus.“ Ich höre, wie hinter mir flache Hände auf eine verzweifelte Stirn klatschen.

Urplötzlich überkommt mich eine unbändige Freude bei dem Gedanken, dass ich in wenigen Minuten wieder inmitten von Wissenschaftlern sein werde.



Letzte Änderungen: 04.07.2018