Corona im Sommerloch: „Viele Entscheidungen sind rein politisch motiviert“

Im Gespräch mit Harald Renz, Marburg


Editorial

(15.07.2022) Wie gut sind die Tests? Wo stehen Therapie und Forschung? Was ist mit der BA.5-Variante? Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin, Harald Renz, zieht eine vorsichtige Zwischenbilanz.

Laborjournal: Gerade erschien das Buch „Der Corona-Atlas“. Sie sind Herausgeber und haben auch Artikel dafür verfasst. Stand der Erkenntnisse ist November 2021. Im Vorwort schreiben Sie: „Es gab meines Wissens nach keine andere Erkrankung, bei der in so kurzer Zeit ein so gewaltiger Erkenntnisschub gelang wie in Zusammenhang mit SARS-CoV-2 und COVID-19“. Das stimmt wohl – aber es fehlen auch noch viele Erkenntnisse.

Harald Renz » Das ist natürlich richtig. Zweieinhalb Jahre nach Beginn dieser Pandemie verstehen wir die Kurzzeiteffekte der Erkrankung, etwa wie das Immunsystem akut anspricht, wie die direkte Wirkung und die Nebenwirkungen der Impfung sind. Natürlich fehlen uns die Langzeitperspektiven: Wie lange hält die Immunantwort, wie gut ist das immunologische Gedächtnis, warum sind die Symptome so unterschiedlich, weshalb leiden Patienten an Post- und Long-COVID? Und wir wissen auch noch wenig darüber, ob und wie gut Kreuzreaktivitäten der Impfung und Infektionen sind, wie gut diese also bei einer Infektion mit einer neuen Variante schützen.

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Editorial

Nicht wenige COVID-19-Genesene leiden unter Symptomen, die ihr Leben auch nach Abklingen der Infektion deutlich beeinträchtigen.

Renz » Ich war im Juni auf einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und völlig überrascht davon, wie viel Raum man dort den Vorträgen und Diskussionen über Post- und Long-COVID eingeräumt hat. Aktuell schätzt man hierzulande und auch international, dass etwa 10 Prozent der ehemals Erkrankten Langzeitbeschwerden haben. Das gilt auch für die mit Omikron Infizierten. Das muss nachdenklich machen, und wir müssen da dringend was tun. Denn weil die Langzeitsymptome so sehr unterschiedlich sind, haben wir einen riesigen Berg an Themen, die wissenschaftliche Fragen, Patientenversorgung, Rehabilitation und so weiter betreffen.

Wie diagnostiziert man denn Long-COVID?

Renz » Wir benötigen dringend ein Labor-Panel, um herauszufinden, was das Problem bei jedem Patienten ist. Mit Schweizer Kollegen überlegen wir, welche labormedizinischen Tests wir angesichts der vielen Facetten dieser Erkrankung überhaupt vorschlagen sollen, auf deren Basis man dann Therapieoptionen für Long-COVID-Patienten erarbeiten kann.Wir müssen wissen, welche Organe betroffen sind, das zentrale Nervensystem, das Herz oder die Gefäße? Ist eine Entzündung im Gange oder eine Autoimmunreaktion? Autoimmunitäten gegenüber Zytokinen und Zytokinrezeptoren, aber auch Typ-1-Diabetes treten gehäuft nach einer Infektion auf.

Wie steht es um eine Long-COVID-Therapie?

Renz » Es wird wohl nicht „die eine“ Therapie geben. Wir müssen je nach Symptomatik passgenaue Therapien entwickeln, die der Arzt dann individuell verordnen kann. Dafür muss er das individuelle Problem kennen. Ich kann schon verstehen, dass die Hausärzte als Grundversorger jetzt von uns Experten verlangen, ihnen zu sagen, was sie mit den Patienten tun sollen. Da müssen wir dringend Hilfestellung geben und die Leitlinien anpassen.

Hat man neue Therapeutika in der Pipeline? Zugelassen, wenn teils auch nur mit Notfallzulassung, sind bisher vier Antikörper-Präparate, drei antivirale und vier immunmodulatorische Wirkstoffe.

Renz » Wenn Sie jetzt mal auf den Webseiten des BfArM [Anm. d Red.: Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte] oder der europäischen Arzneimittel-Agentur EMA herumsuchen, werden Sie feststellen, dass sich kein weiterer Wirkstoff in einem Zulassungsverfahren befindet. Das finde ich sehr ernüchternd.

Und neue, auf Omikron angepasste Impfstoffe lassen auch auf sich warten.

Renz » Stimmt, BioNTech hatte ja einen solchen Impfstoff schon für diesen Frühling angekündigt. Jetzt rechnet man dort wohl mit einem Zulassungsverfahren im Herbst. Warum das jetzt doch so viel langsamer geht, weiß ich nicht.

Flacht also die anfangs attestierte steile Lernkurve nun ab?

Renz » Es hat den Eindruck. Hier und da scheint sich Corona-Müdigkeit breitzumachen. Andererseits haben Viren jetzt eine ganz andere Aufmerksamkeit als früher, und zwar nicht nur aus Sicht der Virologie, sondern auch aus Sicht der Immunologie, der Genetik, der Epidemiologie und anderer Disziplinen.

Anderes Thema: Gerade macht die Evaluierung der Maßnahmen, die ein Expertengremium vornehmen sollte, von sich reden. Was können Sie dazu sagen?

Renz [lacht] » Leider nicht viel. Ich habe das nicht so genau verfolgt, aber mich wundert, warum Herr Drosten das Handtuch geworfen hat. Sein Argument war, es sei so viel durchgestochen worden. Ich weiß nicht, ob das als Begründung reicht: In der Politik wird in allen Gremien durchgestochen und nach außen kommentiert. Ich denke, eine Evaluierung wäre schon gut, nur mit welcher Intention und Konsequenz wird das gemacht?

Na um herauszufinden, welche Maßnahmen wie gewirkt haben – oder eben auch nicht. Das finnische Gesundheitsamt hat beispielsweise herausgefunden, dass die Infektionshäufigkeit bei Kindern sich in Regionen mit Maskenpflicht nicht unterschied von Regionen, wo es diese Pflicht nicht gab. In Deutschland waren die Schulen fast vierzig Wochen geschlossen, in der Schweiz gar nicht.

Renz » Als Wissenschaftler ist man geneigt, einen Faktor herauszupicken und zu betrachten. Wie Sie das gerade getan haben. Allerdings fand jede einzelne Maßnahme in einem Kontext statt – und den muss man bei der Bewertung der Maßnahme berücksichtigen. Schauen wir also mal auf die Schulen in der Schweiz. Dort wurde, vor allem im Kanton Graubünden, ein sehr intensives PCR-Testprogramm gefahren. Alle Schulen und alle Betriebe haben mitgemacht, es wurde mindestens einmal wöchentlich bei jedem ein PCR-Test gemacht. Natürlich auch im Klinikbereich, bei Alten- und Pflegeheimen. So konnte man einen Ausbruch sehr früh feststellen und schnell reagieren. Das hat geholfen, das Alltagsleben weitgehend offen zu halten.

Um eine Maßnahme zu evaluieren oder über ihren Einsatz zu entscheiden, benötigt man Daten. Mit dem Sammeln wichtiger Pandemie-Daten ist man in Deutschland eher zurückhaltend, um es mal freundlich auszudrücken. Ein Beispiel: In Großbritannien haben 99 Prozent der Bevölkerung Antikörper gegen das Virus. Hier wissen wir es nicht.

Renz [seufzt] » Das stimmt leider. Ich kenne jedenfalls keine Studie, die den Status repräsentativ für die Bevölkerung untersucht hätte. Das einzige, was wir wissen, ist, dass ein Viertel der Bevölkerung nicht geimpft ist. Darin sind die fünf Prozent enthalten, die jünger als fünf Jahre sind und für die es keinen Impfstoff gibt. Also bleiben zwanzig Prozent, die gar nicht geimpft sind. Je jünger die Menschen, desto höher ist der ungeimpfte Anteil.

Aber wir wissen nicht, wer von den ungeimpften Personen Corona hatte und somit über einen zumindest gewissen Immunschutz verfügt.

Renz [seufzt wieder] » Auch das ist leider so. Und wir wissen auch nicht, ob ein leichter Verlauf auch leichten Immunschutz bedeutet. Es wundert mich eigentlich, dass es dazu noch nicht mehr Daten gibt.

Was bedeutet das für den Herbst?

Renz » Schauen Sie nach Portugal, wo die BA.5-Variante umgeht. Dieses Virus ist noch infektiöser als das ursprüngliche Omikron-Virus. Dazu kommt, dass seit Ende April alle Schutzmaßnahmen gefallen sind und obendrein die Bevölkerung überwiegend vor mehr als sechs Monaten zuletzt geimpft wurde. Eine fatale Kombination, finde ich. Vielleicht werden wir im Herbst diese Situation auch haben.

Jetzt gerade, es ist Mitte Juni, machen laut dem Schweizer Bundesamt die Varianten BA.4 und BA.5 etwa die Hälfte aller Fälle im Land aus.

Renz » Und der Anteil wird steigen. Hier hört man bisher wenig zu dem Thema.

Man sieht aber sowohl in der Schweiz wie in Portugal, dass die neuen Varianten nicht zu schwereren Erkrankungen führen. Man muss sich also eigentlich keine Sorgen machen.

Renz » BA.4 und BA.5 sind nicht gefährlicher, aber infektiöser. Auch mehrfach Geimpfte und Genesene stecken sich nochmals an. Durch die Masse der Erkrankten hat man dann akut mehr Patienten in den Krankenhäusern und mehr Todesfälle als zuvor. Da muss man das Gesundheitssystem im Auge behalten.

Eine Maßnahme, um die Situation zu beobachten, wäre, erneut intensiv zu testen. Halten Sie das für sinnvoll?

Renz » Schauen Sie mal in unserem „Corona-Atlas“ auf Seite 55, Abbildung 3.13. Da sieht man die potenziellen Ansteckungsherde, die wir aus den Daten des Robert-Koch-Instituts herausgefiltert haben. Man sieht, dass die meisten Personen sich im privaten Haushalt angesteckt haben. Dahinter kamen zu Beginn der Pandemie noch die Altenheime. Auf Platz drei folgen die Arbeitsplätze. Das hat mich wirklich überrascht, es war mir nicht klar, wie viel im häuslichen Umfeld passiert.

Welchen Schluss ziehen Sie daraus?

Renz » Wir müssen mehr testen, vor allem auch im häuslichen Umfeld. Ich kann nur raten: Testet euch zu Hause, testet die Kinder, die Angehörigen. Das ist natürlich eine Frage des Vertrauens in die Tests. Ein positiver Test bedeutet: Infektion. Immer. Und es ist eine Frage in der Verantwortung des Einzelnen. Inzwischen kenne ich persönlich viele Menschen, die mir sagen: „Na ja, ich war da positiv, aber ich habe es niemandem gesagt und bin auch nicht zu Hause geblieben.“

Wirklich?

Renz » Ja, klar. Viele Menschen halten eine Omikron-Infektion für einen harmlosen Infekt.

Solche Personen kenne ich bisher nicht.

Renz » Na, es sagt einem ja auch nicht jeder, dass er nix sagt oder tut. Und auch nicht jeder testet sich bei leichten Symptomen.

Wie gut sind denn die Tests? Nach der neuesten Untersuchung des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI), Stand 30. Mai, sind 48 käufliche Tests untauglich, davon erkennen 9 Tests nicht einmal die höchste geprüfte Viruslast mit einem Ct-Wert von kleiner 25. Das PEI schreibt, dass bei der negativen Evaluierung eines Tests das BfArM diesen Test von seiner Empfehlungsliste nimmt. Aber sollte es solche Tests nicht rigoros vom Markt nehmen? Oder umgekehrt gute Tests mit einem Gütesiegel versehen? 161 Tests haben die Evaluierung bestanden.

Renz » Bei der Beurteilung der Qualität von In-vitro-Diagnostika, kurz IVD, geht es um eine grundsätzliche Frage: Warum werden solche Tests – mit ganz wenigen Ausnahmen – nur von den Herstellern selbst geprüft und nicht von einer Behörde? Das geht so: Die Hersteller schreiben eine Dokumentation, ob die stimmt oder nicht, weiß man nicht.

Aber jemand liest doch die Dokumentation.

Renz » Ja, schon, aber er muss sich auf das verlassen, was da steht.

Und Papier ist geduldig.

Renz » Eben. Dann gibt es einen CE-Stempel und der Test geht in den Verkauf. Eigentlich bräuchten wir für solche Point-of-Care-Tests, wie es die Antigenschnelltests sind, eine Art Zulassungsverfahren. Das kann und muss nicht so ausführlich wie das Verfahren für ein Medikament sein, das käme auch viel zu teuer und würde zu lange dauern. Aber es müsste transparent und objektiv sein, sodass man sicher sein kann, dass am Schluss nur die hochqualitativen Tests übrig bleiben. Auf die aktuellen Evaluationen der Schnelltests bezogen würde ich das PEI kritisieren. Die haben das Tor für ein PEI-Gütesiegel schon sehr weit geöffnet.

Sie wollen also mehr Sensitivität und Spezifität von guten Tests, als das bisher verlangt wird?

Renz » Ja, unbedingt. Als „bestanden“ benotet das PEI diejenigen Tests, die in seiner Evaluation eine Mindestsensitivität von 75 Prozent hatten – und zwar mit Proben höherer Viruskonzentration, die einem Cq-Wert von kleiner 25 entspricht. Wie ein Test auf mittlere oder geringe Viruslast anspricht, spielt in der Bewertung keine Rolle.

[Zur Erklärung: Der Cq-Wert bedeutet Quantification Cycle und bezeichnet die Anzahl der PCR-Zyklen. Da gibt es Tests, die zwar hundertprozentig auf die hohen Viruslasten anspringen, aber bei einem Cq-Wert von >30 nichts mehr erkennen, und bei mittleren Cq-Werten um die fünfzig Prozent richtig liegen.]

Und die Evaluation gibt keinen Hinweis auf die Spezifität der Tests, die den Anteil der korrekt als gesund erkannten Personen beschreibt.

Allerdings hat die EU eine neue Richtlinie namens 2017/746 für die Prüfung von In-vitro-Diagnostika herausgegeben, die eigentlich im Mai hätte in Kraft treten sollen. Sie würde auch eine intensivere Überprüfung von Corona-Schnelltests verlangen.

Renz » Diese Richtlinie wird aber noch nicht angewandt. Das Letzte, was ich davon gehört habe, ist, dass es Übergangsfristen bis 2025 gibt, weil viele Fragen nicht geklärt sind. Im medizinisch-diagnostischen Labor setzen wir beispielsweise auch selbst entwickelte Tests etwa für genetische Diagnostik oder die Überprüfung des Antikörperstatus ein. Nach der neuen Richtlinie müssten wir diese Tests genauso evaluieren lassen wie die kommerziellen Hersteller ihre Tests. Das können wir gar nicht. Dann müssten wir unsere Tests einstellen oder drunterschreiben: Achtung, nicht nach IVD-Richtlinie geprüft. Seit Jahren bemühen wir uns um eine Lösung, aber erst jetzt wurden wir in der EU wahrgenommen, und man denkt darüber nach, wie man damit umgehen will.

Werden denn derweil umfassende – und nicht nur sporadische – unabhängige Überprüfungen von Corona-Tests im Bundesgesundheitsministerium oder anderen Behörden ernsthaft diskutiert?

Renz » Ich höre nur Einzelmeinungen und habe noch nichts Systematisches wahrgenommen. Ich glaube schon, dass man ein schnelles und für den Hersteller machbares Verfahren implementieren könnte. Ich bin aber kein Jurist, kann die gesetzliche Lage also nicht beurteilen. Man muss auch bedenken, dass Entscheidungen, die in Berlin getroffen werden, politisch gewollt sind …

… und man sich dabei nicht unbedingt mit wissenschaftlicher Evidenz belastet.

Renz [lacht] » Ich habe heute in der Zeitung gelesen, ob und wie man sich auf den Corona-Herbst vorbereiten will. Die Grünen wollen Pläne machen, die FDP drückt auf die Bremse. Da kommt man mit wissenschaftlicher Evidenz nicht weiter, Portugal hin und BA.5 her. Das ist einfach Politik. Und das ist bestimmt auch ein Resultat der erwähnten Corona-Müdigkeit. Wir haben ja jetzt auch wieder andere Themen.

Corona ist also im Sommerloch?

Renz » Irgendwie schon. Viele Entscheidungen, die getroffen wurden, sind rein politisch motiviert – etwa die Sequenzierfrequenz zu drosseln, die Testfrequenz zu senken, die PCR-Tests aus der Kostenerstattung herauszunehmen. Das waren alles politische Entscheidungen, deren Grundlage nicht wissenschaftliche Evidenz ist. Diese Entscheidungen sind anders getrieben. Man muss zur Kenntnis nehmen: Politik ist nicht Wissenschaft, diese Disziplinen sind diametral entgegengesetzt.

Interview: Karin Hollricher (7.6.22)



Zur Person

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Harald Renz ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin und leitet das Institut für Laboratoriumsmedizin des Universitätsklinikums Gießen und Marburg.