Editorial

#IchBinHanna – Warum prekäre Arbeit der Wissenschaft nachhaltig schadet

Von Amrei Bahr und Kristin Eichhorn, Stuttgart, sowie Sebastian Kubon, Hamburg


(15.07.2022) Im Juni 2021 ging der von den Autorinnen und dem Autor dieses Beitrags initiierte Hashtag #IchBinHanna auf Twitter viral. Plötzlich gaben zahlreiche befristet angestellte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dem Prekariat im deutschen Hochschulwesen öffentlich ein Gesicht, viele davon unter Klarnamen. Sie beschrieben die strukturell trostlose Perspektive in der deutschen Wissenschaft anhand von zahlreichen individuellen Beispielen. Unsere Grassroots-Initiative verließ schnell die Twitter-Blase, da auch die klassischen Medien in einer bisher kaum dagewesenen Breite über die prekären Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft berichteten [1].

Es ist spätestens jetzt kein Geheimnis mehr, dass die Beschäftigung an deutschen Hochschulen so gar keine Ähnlichkeit mit den Bedingungen hat, die man gemeinhin mit Arbeitsverhältnissen beim Staat assoziiert. Schon im Herbst 2020 hatten wir mit dem Hashtag #95vsWissZeitVG – in loser Anlehnung an den Reformationstag – 95 Thesen gegen das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) gesammelt. In ihnen fassten wir unterschiedliche Probleme zusammen, die das prekäre Arbeitswesen für Individuen, aber auch für Wissenschaft, Gesellschaft und Wirtschaft produziert [2].

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Wer aber ist Hanna? Und was ist eigentlich das Wissenschaftszeitvertragsgesetz? Hanna ist eine fiktive animierte Doktorandin aus einem inzwischen gelöschten Erklärvideo des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), das den Adressaten und Adressatinnen die Befristungspraxis in der deutschen Wissenschaft nicht nur erklären, sondern auch als sinnvoll und gut verkaufen sollte. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich in Deutschland über viele Jahre von einem befristeten Vertrag zum nächsten hangeln müssen, fühlten sich von diesem Erklärungsversuch zu Recht verhöhnt.

Eine wesentliche Grundlage der desolaten Befristungspraxis für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, mit dem 2007 ein bundesweit geltendes Sonderbefristungsrecht eigens für die Wissenschaft geschaffen wurde (heute gültig in der Novellierung von 2016). Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können aufgrund dieses Gesetzes zu Qualifikationszwecken (beispielsweise für die Arbeit an ihrer Dissertation oder Habilitation) maximal bis zu sechs Jahre vor der Promotion und weitere sechs Jahre nach der Promotion befristet angestellt werden. (Es gibt Abweichungen für Medizinerinnen sowie Mediziner und „Härtefall-Regelungen“ wie eine Familienkomponente oder das „Corona-Jahr“, deren Umsetzung in entsprechende Arbeitsverträge aber einer gewissen Willkür der Hochschulen unterliegt und vielen Wissenschaftlerinnen sowie Wissenschaftlern deshalb gar nicht zuteil wird.)

Wem es zum Ablauf der zwölf Jahre nicht gelungen ist, eine der wenigen unbefristeten Stellen oder eine Professur auf Lebenszeit zu ergattern, muss in den meisten Fällen unfreiwillig die der eigenen Qualifikation entsprechende Arbeit in der Wissenschaft aufgeben und sich beruflich neu orientieren. Aufschub geben allenfalls Verträge mit kurzer Laufzeit aus Drittmitteln, dies dann aber weiterhin befristet. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen also regelmäßig im vierten oder fünften Lebensjahrzehnt in einer anderen Branche Fuß fassen.

Das in anderen Sparten geltende Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) enthält hingegen sehr viel strengere Vorgaben – schließlich ist der bundesrepublikanische Konsens, dass das unbefristete Arbeitsverhältnis das Normalarbeitsverhältnis bleibt. In der Wissenschaft ist es allerdings genau umgekehrt: 92 Prozent der unter 45-jährigen Beschäftigten ohne Lebenszeitprofessur sind befristet angestellt [3]. Sie gelten als „Nachwuchs“, der sich noch bewähren muss. Diese fragwürdige Bewährungslogik macht nicht einmal mehr vor den vormals als Lebenszeitstellen ausgelegten Professuren Halt: Immer mehr Professuren werden befristet ausgeschrieben, teils sogar ohne Entfristungsoption [4].

Ein Grund für die massiv hohen Befristungszahlen ist die Abhängigkeit der Hochschulen von Drittmitteln, die Forschung projektabhängig fördern und mittlerweile dicht an die 50 Prozent der Gesamtfinanzierung herangehen. Ähnliches galt auch über viele Jahre für Stellen speziell zur Unterstützung der Lehre aus den vom Bund finanzierten Hochschulpaktmitteln. Die werden jetzt auf Basis des „Zukunftsvertrags Studium und Lehre stärken!“ verstetigt – gerade weil man erkannt hat, dass aus den bisherigen Zuschüssen sehr viele befristete Stellen geschaffen worden sind. Das ist mit nachhaltiger Lehre nicht kompatibel. Inwieweit die Änderung indes dazu geeignet ist, der Situation abzuhelfen, bleibt abzuwarten. Denn die mit den Bundesländern abgeschlossenen Verträge lassen doch stark verbindliche Zusagen zur Schaffung von Dauerstellen vermissen.

Aber die überbordende Befristungspraxis liegt nicht allein in der Projektförmigkeit der Wissenschaftsfinanzierung begründet. Das zeigen die ähnlich hohen Befristungsquoten an außeruniversitären Forschungseinrichtungen wie der Max-Planck-Gesellschaft, die wesentlich weniger auf befristete Mittel angewiesen sind. Hingegen wird in der Wissenschaft oft schlicht deshalb zügellos befristet, weil es gesetzlich erlaubt ist.

Außerdem: „Eigene“ abhängige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu haben, die stets um ihren nächsten Vertrag bangen müssen, stärkt die Machtposition der vorgesetzten Professorinnen, Professoren, Direktorinnen und Direktoren und begünstigt nicht selten (die Vertuschung von) Machtmissbrauch. Denn weder können sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gegen ihre Vorgesetzten rechtlich zur Wehr setzen, noch liegt es im Interesse einer Hochschulleitung, Professorinnen oder Professoren zurechtzuweisen, wenn diese über Drittmittelakquise und Forschungstätigkeiten doch wesentlich zu Finanzierung und Standing ihrer Institution beitragen.

Diese unbefriedigende Situation wurde nun im Video des BMBF als notwendige Voraussetzung für Innovation bezeichnet. Ohne stetige Fluktuation des Personals komme es zur „Verstopfung“ des Systems. Diese zynische Wortwahl macht den befristetet beschäftigten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sehr deutlich, dass sie als reines Verschleißmaterial betrachtet werden und die Wissenschaft ganz offiziell als Durchlauferhitzer gedacht ist. Dies sei letztlich eine Form der Generationengerechtigkeit, weil so allen Kohorten von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die gleichen Chancen eingeräumt würden, wurde das BMBF nicht müde zu betonen. Natürlich ist das eine argumentative Finte, da sich bei solch hohen Befristungsquoten und desolaten Personalstrukturen nicht sinnvoll von Chancen sprechen lässt, sondern allenfalls von Glückstreffern und der Bewahrung von Privilegien. Jeder Generation die „Chance“ einzuräumen, sich stets aufs Neue in unsachgemäßen und unfairen Beschäftigungsverhältnissen verheizen zu lassen, hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun.

Zwar gibt es schon seit Jahren immer wieder Twitter-Aktionen, die die prekären Arbeitsverhältnisse anprangern, doch haben nie zuvor so viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Klarnamen die Probleme und Belastungen, die diese politisch gewollte Unsicherheit mit sich bringt, derart eindringlich und öffentlichkeitswirksam unter dem Hashtag #IchBinHanna in den Fokus gerückt. Dabei ist deutlich geworden, dass es sich keineswegs um individuelle Probleme handelt, die die Betroffenen selbst zu verschulden hätten. Vielmehr zeigen die Missstände, wie gerade Innovation und Chancengleichheit strukturell unterbunden werden, während hierarchischen Strukturen, Machtmissbrauch und wissenschaftlichem Fehlverhalten zugearbeitet wird.

Ihre prekäre Situation bringt es mit sich, dass befristet beschäftigte Wissenschaftlerinnen sowie Wissenschaftler mehr mit dem Schreiben von Bewerbungen und Anträgen beschäftigt sind als mit Forschung, ganz zu schweigen von Lehre oder Wissenschaftskommunikation. Die beiden letzten Aktivitäten sind im Übrigen auch nur zu einem geringen Anteil entfristungsrelevant – im Gegensatz zu Forschung und vor allem Drittmitteleinwerbung. Ein großer Anteil der Arbeitszeit wird investiert, um die eigene Finanzierung zu sichern. Aufgrund niedriger Förderquoten ist diese Arbeit aber oft für den Papierkorb. Damit stellt das Antragswesen eine immense Verschwendung von Steuergeldern, Zeit und Motivation dar, die ihresgleichen sucht.

Die Hochschulen bieten unter solchen Bedingungen weniger die Rahmenbedingungen für Forschung als maximal noch für die Ausarbeitung von Forschungsphantasien, die mangels finanzieller Ressourcen zum überwiegenden Teil nie in die Tat umgesetzt werden. Damit geht der gesellschaftliche Mehrwert von Wissenschaft verloren: Bewerbungen und die Konkurrenz um Drittmittel werden zum Selbstzweck, dem sich alles andere unterzuordnen hat. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden durch die künstliche Erschaffung existenzieller Nöte dazu gezwungen, nur auf den eigenen Nutzen zu schauen, statt für das Gemeinwohl zu arbeiten – ein Ziel, das viele von ihnen ursprünglich gerade zur Wahl ihres Berufes motiviert haben dürfte. Die Folge ist Frustration auf allen Ebenen.

Dass Mittel für Forschung inzwischen in erster Linie nach aufwendigen und lange dauernden Antragsverfahren fließen, hat neben der Prekarisierung befristetet beschäftigter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler indes weitere negative Effekte für die Wissenschaft. Forschung kann oft nur noch betrieben werden, wenn sie in kleine Häppchen verpackt wird. Die Bearbeitung langfristiger Fragestellungen ist deutlich erschwert. Die Folgen: Es fehlt an Grundlagenforschung. Teuer angeschaffte Geräte verwaisen, weil sie niemand mehr bedienen kann. Aufwendig aufgebaute digitale Plattformen veralten, weil nur ihre Anlage, nicht aber ihr Betrieb auf Dauer für die an „Innovation“ interessierten Fördermittelgeberinnen und Fördermittelgeber attraktiv ist.

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In Fächern mit starker Industriekonkurrenz ist es inzwischen schwer, Stellen überhaupt zu besetzen, da die in Frage kommenden Bewerberinnen und Bewerber anderswo deutlich bessere Bedingungen vorfinden. Hinzu kommt, dass die Antragstellung zunehmend davon beherrscht wird, inhaltlich Rücksicht auf die Geldgeberinnen und Geldgeber zu nehmen und Projekte danach auszurichten, was Vorgesetzte und Gutachterkommissionen mutmaßlich gerade für sinnvoll halten. Risikobehaftete und innovative Forschungsideen werden so schon häufig durch die eigene Schere im Kopf zensiert. Es ist daher gegenwärtig vermehrt Stromlinienförmigkeit in der Wissenschaft zu beobachten. Prekär beschäftigte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können sich keine Risiken leisten, wenn sie ihren Verbleib in der Wissenschaft sichern wollen. Von einer „Karriere“ kann man da eigentlich schon gar nicht mehr sprechen.

Für diese „Karriere“ zählen letztlich auch Publikationen an hochrangiger Stelle. Um die eigene Publikationsliste möglichst umfangreich damit zu füllen, werden gerne Inhalte wiederverwertet und aus halbfertigen Ergebnissen steile Thesen gebaut. Zudem kommt es vor allem in Fächern mit Co-Autorenschaften vor, dass aus strategischen Gründen oder auf ihren Druck hin Autorinnen und Autoren mit angegeben werden, die nichts mit der Publikation zu tun haben. Prekäre Beschäftigung begünstigt also auch bestimmte Formen wissenschaftlichen Fehlverhaltens. Das hängt häufig mit den bereits zuvor erwähnten Abhängigkeitsbeziehungen in der Wissenschaft zusammen: Wer ausschließlich unter den Bedingungen kurzfristiger Beschäftigung arbeitet, hängt von der Gunst etablierter Professorinnen und Professoren sowie der Verwaltung ab. Zwar stehen den Betroffenen natürlich weiterhin gesetzlich gesicherte Rechte zu; diese wird aber kaum einfordern, wer im System überleben will. So erklärt sich auch die Vielzahl der verfallenen Urlaubstage, die dringend einmal systematisch erfasst werden sollte. Statistisch gesichert ist hingegen die Anzahl der gemachten und nie vergüteten Überstunden: Die belaufen sich im Schnitt auf 13 Stunden vor der Promotion und zehn Stunden nach der Promotion – pro Woche!

Wissenschaft ist auf diese Weise primär eine Branche für die bereits ohnehin Privilegierten, die sich biografische und ökonomische Unsicherheit leisten können. Bis zur Professur ist es ein langer Weg, auf dem der zweite Platz immer der erste Verlierer ist. Da es keine „Trostpreise“, sondern nur Nieten gibt, machen sich viele potenzielle Kandidatinnen und Kandidaten gar nicht erst auf den Weg. Schon Studierende bekommen mit, welche Bedingungen herrschen, und entscheiden sich früh gegen den Versuch, in der Wissenschaft zu arbeiten. Angesichts dieser Benachteiligung ist es wenig überraschend, dass zwar bei den Studierenden das Geschlechterverhältnis längst ausgeglichen ist, sich dieses Verhältnis auf der Leitungsebene aber längst nicht wiederfindet: Gerade Frauen scheiden aufgrund der äußerst schlechten Vereinbarkeit von Wissenschaft und Familie recht bald aus, andere bleiben ungewollt kinderlos. Viele Umzüge und lange Pendelstrecken sind mit Care-Arbeit (ob für Kinder oder pflegebedürftige Angehörige) ebenso wenig vereinbar wie die stets drohende Gefahr von Phasen der Arbeitslosigkeit [5].

Zunächst umworbene Forschende aus dem Ausland müssen, sind sie einmal da, regelmäßig um ihren Aufenthaltsstatus bangen, ist dieser doch oft an den Arbeitsvertrag gekoppelt; dies ist unter anderem unter dem von Reyhan Şahin gestarteten Hashtag #IchBinReyhan nachzulesen [6]. Die Bundesrepublik Deutschland gefällt sich darin, „Nachwuchs“ ins System zu bringen und „international scholars“ ins Land zu holen (gerne auch die, die in ihren Herkunftsländern gefährdet sind). Was nach Auslaufen ihres Stipendiums oder ihres Vertrages aus ihnen wird, interessiert dann plötzlich nicht mehr, denn das ist anders als deren „Förderung“ keine Pressemitteilung wert.

Die wenigen privilegierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind eine kleine Elite. Das ist auch so gewollt – und die Elite wird nur noch elitärer, wenn nun auch W2-Professuren immer häufiger befristet sind. Die kleine Möglichkeit, in diese Gruppe aufzusteigen, dient als Karotte, die der Masse der Forschenden vor die Nase gehalten wird, ohne dass die meisten das Ziel jemals erreichen können. Angesichts der verschwindend geringen Chance ist von einem positiven Wettbewerb nichts mehr übrig: Es sind letztlich Netzwerke und Kontakte, die den Ausschlag geben. Mit solchen Strukturen geht eine Arbeitskultur einher, die vielfach als toxisch beschrieben werden kann. Diese gibt es zwar auch in anderen Branchen, doch ist der Vergleich mit weiteren staatlichen Arbeitsplätzen frappierend: Schullehrerinnen und -lehrer werden nach wenigen Jahren vielfach verbeamtet, während ihre ehemaligen Ausbilderinnen und Ausbilder weiterhin prekär beschäftigt sind, wenn sie nicht gleich ganz aus dem System ausscheiden mussten. Strukturell haben befristet beschäftigte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mehr Gemeinsamkeiten mit Akteurinnen und Akteuren der Gig-Economy wie Uber-Fahrerinnen sowie -Fahrer, die sich ohne institutionelle Sicherheit von Auftrag zu Auftrag hangeln, als mit anderen Staatsangestellten.

Dass ein so eingerichtetes System der zahlenmäßig stärksten Gruppe an den Hochschulen, den Studierenden, nicht zugutekommt, überrascht nicht. Studierende benötigen eigentlich verlässliche Ansprechpartnerinnen und -partner, vernünftige Betreuungsrelationen und konzentrierte, einfallsreiche Lehre. Mit der permanenten Fluktuation von Lehrenden, die dazu noch unter dauerndem Bewerbungsstress stehen, ist ihnen nicht im Mindesten gedient. Die Lehre, da kaum entfristungsrelevant, ist ohnehin das ungeliebte Geschwisterkind der Forschung an deutschen Universitäten. (An Hochschulen für Angewandte Wissenschaften, den HAWs, sieht das etwas anders aus, aber auch dort ächzt man unter der ohnehin höheren Lehrbelastung.)

Was hat #IchBinHanna bislang gebracht? Ein wesentlicher Aspekt dürfte der Vernetzungsaspekt im sozialen digitalen Raum mit seinem Erfahrungsaustausch sein. Dadurch ist es gelungen, dass das System als strukturell fehlerhaft erkannt und benannt wird – und sich die Betroffenen nicht mehr individuelles Versagen unterstellen (lassen) müssen.

Das Thema ist zudem nachhaltig in der Politik angekommen. Das BMBF – zu dem Zeitpunkt noch unter der Leitung von Anja Karliczek (CDU) – sah sich mehrfach zu Stellungnahmen gezwungen und schon zwei Wochen nach dem ersten Tweet wurde eine „Aktuelle Stunde“ im Bundestag zu diesem Thema angesetzt. Im Koalitionsvertrag der neuen Regierung aus SPD, Grünen und FDP wurden sämtliche Kernforderungen von #IchBinHanna aufgegriffen. So sollen unter anderem Stellen die gesamte Dauer der Promotion abdecken und Dauerstellen für Daueraufgaben eingerichtet werden. Die neue Regierung hat sich damit zu verlässlichen Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft bekannt und eine Reform des WissZeitVG auf Basis der mittlerweile erfolgten Gesetzesevaluation angekündigt. (Die Evaluation sollte eigentlich schon in der vergangenen Legislaturperiode vorgelegt werden, wurde aber von der alten Regierung verschleppt.)

Da die Formulierungen im Koalitionsvertrag recht offen sind, lassen sie einigen Spielraum für die Entwicklung guter Lösungen. Gleichzeitig bergen sie das Risiko, dass Reformen nicht weit genug gehen oder sich einzelne Zielsetzungen und Maßnahmen gegenseitig konterkarieren. So ist zum Beispiel angesichts der Ankündigung, die Exzellenzstrategie zu verlängern und die Drittmittel zu erhöhen, nicht geklärt, wie dies mit einer nachhaltigen Wissenschaft und einer Möglichkeit der Erforschung langfristiger Phänomene sowie einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammengehen soll. Schließlich sind doch gerade derartige Steuerungshebel und Maßnahmen mitverantwortlich für die gegenwärtige unbefriedigende Situation.

Zudem müssen die Karrierewege in der Wissenschaft neu diskutiert werden. Davon führt der Koalitionsvertrag mehrere Optionen parallel auf, etwa Tenure-Track-Professuren oder mehr Dauerstellen neben der Professur. Die Pluralität der Karrierewege bringt jedoch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jetzt schon in die missliche Situation, dass es völlig unklar ist, welche Anforderungen zu erfüllen sind, um wenigstens eine minimale Chance auf Erfolg zu haben (zum Beispiel Habilitation: ja oder nein?). Hier müssen grundsätzliche Probleme und Unstimmigkeiten beseitigt werden. Eine punktuelle Verbesserung einzelner Programme oder Gesetzespassagen reicht nicht aus.

Die obigen Ausführungen zeigen, wie umfassend die systemischen Probleme sind. Ohne eine tiefgehende wie umfassende Reform des Wissenschaftssystems werden sich keine Lösungen finden. Diese Aufgabe ist nicht trivial, liegen die verschiedenen Zuständigkeiten doch nicht nur beim Bund, sondern auch bei den Ländern sowie den Hochschulen und wissenschaftlichen Einrichtungen. In diesem Bermuda-Dreieck sind schon einige Initiativen verschollen.

Auf eine große koordinierte Reform zu verzichten, kann sich die deutsche Wissenschaft jedoch nicht leisten. Nicht nur, weil vernünftige Arbeitsbedingungen einen Wert an sich darstellen, sondern auch, weil es die Wissenschaft in vielen Bereichen nicht mehr schafft, mit der außerwissenschaftlichen Konkurrenz mitzuhalten. Wissenschaft als Beruf verliert zunehmend an Attraktivität. #IchBinHanna hat gezeigt, dass sich daran dringend etwas ändern muss, wenn deutsche Wissenschaft fair und zukunftsfähig ausgestaltet werden soll.

Das Buch zur Aktion ist am 27. März 2022 in der Edition Suhrkamp erschienen [7].


Referenzen

[1] Siehe den Pressespiegel auf https://ichbinhanna.wordpress.com.
[2] https://95vswisszeitvg.wordpress.com. Die Thesen liegen mittlerweile auch gedruckt vor zusammen mit Erfahrungsberichten und drei Essays. Vgl. Amrei Bahr, Kristin Eichhorn, Sebastian Kubon (Hg.): #95vsWissZeitVG. Prekäre Arbeit in der deutschen Wissenschaft. Marburg 2021.
[3] Vgl. Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs: Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021, doi: 10.3278/6004603aw.
[4] Kristin Eichhorn: Befristete Professuren – die nächste Bewährungsstufe. In: alma meta vom 20. März 2020; https://almameta.de/befristete-professuren-die-naechste-bewaehrungsstufe/.
[5] Vgl. Amrei Bahr, Kristin Eichhorn, Sebastian Kubon: Forschung auf ALG I und Hartz IV. In: Zeitgeschichte Online vom 10. Juni 2021; https://zeitgeschichte-online.de/node/58477.
[6] twitter.com/hashtag/ichbinreyhan
[7] Amrei Bahr, Kristin Eichhorn, Sebastian Kubon: #IchBinHanna. Prekäre Wissenschaft in Deutschland. Suhrkamp Verlag (2022).



Zu den Personen

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Amrei Bahr ist Juniorprofessorin für Philosophie der Technik und Information an der Universität Stuttgart und forscht zur Kopierethik und der Ethik der Abfallentsorgung..

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Kristin Eichhorn vertritt zur Zeit eine Professur für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Stuttgart.

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Sebastian Kubon ist promovierter Mediävist und beschäftigt sich vorwiegend mit Public History. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Geschichte der Universität Hamburg..