Forschen nach der Pandemie – Impulse aus der COVID-19-Krise

Von Anja Bosserhoff, Erlangen-Nürnberg, und Annette Barkhaus, Köln


Editorial

(16.07.2021) Der Wissenschaftsrat hat die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf das Wissenschaftssystem analysiert. In einem Positionspapier formuliert er zehn Herausforderungen, welche die Autorinnen im folgenden Essay in Form von drei Leitmotiven zusammenfassen.

Die COVID-19-Pandemie ist eine historische Zäsur. Als der Wissenschaftsrat sich im Frühjahr 2020 entschied, die Auswirkungen der Krise auf das Wissenschaftssystem zu analysieren, waren Dauer und Umfang der Pandemie nicht absehbar. Vielmehr wähnte man sich gerade in Deutschland in einer komfortablen Situation. Denn im Unterschied zu anderen europäischen Ländern konnten die Intensivstationen die Schwerstkranken sehr gut versorgen, zügig wurden Mittel für die Impfstoffentwicklung bereitgestellt, die politisch Verantwortlichen hatten in kurzer Zeit weitreichende Maßnahmen ergriffen und eine hohe Bereitschaft gezeigt, wissenschaftliche Erkenntnisse, Prognosen und Szenarien in ihre Entscheidungsfindung mit einzubeziehen.

Doch die Situation änderte sich, je länger die Pandemie dauerte und je deutlicher die Logik anderer gesellschaftlicher Bereiche (wie zum Beispiel die des medialen oder des politischen Systems) die Kommunikation wissenschaftlicher Ergebnisse oder die Aushandlung von Entscheidungen unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Evidenz mitbestimmte.

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Illustr.: AdobeStock / fran_kie

Editorial

Der Wissenschaftsrat entschied sich sehr früh im April 2020, die Auswirkungen der Pandemie auf das Wissenschaftssystem in einem Positionspapier „Impulse aus der COVID-19-Krise für die Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems in Deutschland“ zu analysieren. In Deutschland ist er der Akteur, der seit seiner Gründung im Jahr 1957 die Bundesregierung und die Regierungen der Länder in allen Fragen der inhaltlichen und strukturellen Entwicklung der Wissenschaft, der Forschung und des Hochschulbereichs In Deutschland berät. Vor diesem Hintergrund sah er es als seine Aufgabe an, das Wissenschaftssystem als Ganzes in der Pandemie in den Blick zu nehmen. Seine Analysen und darauf aufbauenden Empfehlungen entwickeln eine große Resonanz im politischen Raum, denn schon bei der Erarbeitung seiner Papiere sitzen die Ministerien des Bundes und der Länder mit am Tisch. So auch hier: Wir konnten mit unserem Papier den dringenden Bedarf bei verschiedenen, hochrelevanten Aspekten deutlich machen, beispielsweise in puncto Digitalisierung. Mehr noch: Hierbei wurde die Aufmerksamkeit auf Fragen von digitaler Souveränität und Sicherheit im Wissenschaftssystem gerichtet, und nicht allein auf den Zugang zum Glasfaserkabel – mit all den Konsequenzen für Governance und Ressourcen in der digitalen Infrastruktur.

Wichtig für unser Wissenschaftssystem ist zudem die Verständigung der wissenschaftlichen und politischen Seite darauf, dass die öffentliche Hand ihr finanzielles Engagement für das Wissenschafts- und Innovationssystem auf hohem Niveau fortführt. In einer Situation drohender Kürzungen für das Wissenschaftssystem – von der Landes- bis zur europäischen Ebene – ist so eine politische Erklärung wichtig.

Das Positionspapier des Wissenschaftsrats hat zehn Herausforderungen identifiziert. Sie reichen von der Politikberatung über die Wissenschaftskommunikation bis hin zu Fragen der Handlungsfähigkeit im europäischen Wissenschaftsraum. Damit ist die große Breite des Handlungsbedarfs für ein zukunftsfestes Wissenschaftssystem markiert. Statt im Folgenden jede der identifizierten Herausforderungen vorzustellen, werden wir drei Leitmotive hervorheben, die in vielen von ihnen wiederzufinden sind.

Leitmotiv: Vernetzung und Kooperation

Mangelnde Vernetzung und Kooperation haben sich an unterschiedlichen Stellen im Wissenschaftssystem gezeigt. Die Pandemie hat diesen Mangel gerade in der Gesundheitsforschung schonungslos offengelegt – und zwar in dreierlei Hinsicht:

(1) In der Pandemie wurde der große Nachholbedarf Deutschlands in puncto Vernetzung und Management medizinischer oder medizinrelevanter Daten sichtbar. Die Kohorten für klinische Studien sind vielfach zu klein. Zudem werden Patientendaten nicht überall strukturiert erhoben, obwohl eine solche Standardisierung für die klinische Forschung unabdingbar ist. Hinzu kommt, dass standortübergreifender Zugang zu standardisierten Daten aus der medizinischen Forschung fehlt. Der Wissenschaftsrat hat hier grundlegenden Wandel angemahnt, schon allein, um international konkurrenzfähig zu werden. Selbst wenn die rechtliche Grundlage für eine forschungskompatible elektronische Patientenakte ab 2023 einen rechtssicheren Zugriff der Forschung auf Daten ermöglicht, sind weitere Anstrengungen für die Umsetzung erforderlich.

(2) Zu Beginn der Pandemie konnten sich die Gesundheitswissenschaften wie etwa die Pflegewissenschaften kaum Gehör verschaffen, obwohl beispielsweise die Maßnahmen den Alltag von alten und betagten oder auch psychisch erkrankten Menschen radikal veränderten. Es fehlte eine intensive Vernetzung medizinischer mit gesundheitswissenschaftlicher Fachexpertise vor Ort, um koordiniert reagieren zu können. Auf lokaler Ebene kann dies allein gelingen, indem fachübergreifende Organisationsstrukturen gebildet werden. Hier, so unsere Einschätzung, konnten und können einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler viel bewegen. Mittel- bis langfristig bedarf es jedoch eines institutionellen Ortes, um Vernetzung und Kooperation zu verstetigen. Erst dann kann die Wissenschaft in Zukunft sowohl in einer Gesundheitskrise zügig reagieren als auch proaktiv Präventionsstrategien entwickeln. Es bedarf der institutionalisierten Vernetzung in der Wissenschaft selbst: von der Medizin und medizinischen Forschung über die lebenswissenschaftliche Grundlagenforschung bis hin zur Public-Health-Forschung, Versorgungs- und Präventionsforschung sowie den Gesundheitswissenschaften. Einer solchen Vernetzung bedarf es auch mit Blick auf Wissenschaftskommunikation und Politikberatung.

(3) Eine Vernetzung allein innerhalb der medizinischen und Gesundheitsforschung reicht nicht aus. Für Modellierungen, Simulationen und Szenarien muss beispielsweise die Epidemiologie auf Expertise aus der Mathematik, Informatik und den Technikwissenschaften zurückgreifen. Ohne die Sozialwissenschaften lassen sich keine Strategien entwickeln, um bestimmte Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie (wie etwa eine Corona-Warn-App) erfolgreich einzuführen. Zudem stellen sich ethische und rechtliche Fragen – sei es, um sich auf den Umgang mit einer begrenzten Anzahl von Intensivbetten vorzubereiten oder um eine Impfstrategie zu entwickeln. Bisher ist eine solche multi- und interdisziplinäre Vernetzung vernachlässigt worden. Auch hier steht ein Wandel zu einer stärker kooperativen Forschungskultur an.

In der Pandemie sind die Defizite in der Vernetzung und Kooperation über Disziplin-, Einrichtungs- und Sektorengrenzen hinweg besonders auffällig geworden. Exemplarisch zeigte sich dies in der Gesundheitsforschung. Jedoch kann diese Analyse auf viele andere Bereiche des Wissenschaftssystems ausgeweitet werden: Durchlässige Grenzen für Probleme, Wissen sowie Personen und zugleich Strukturen für Begegnung und Kooperation müssen dringend aufgebaut werden.

Leitmotiv: Globale Forschungskooperationen

In den vergangenen Jahren hat sich das Wissenschaftssystem noch einmal deutlich stärker internationalisiert, was zu einer Steigerung seiner Leistungsfähigkeit beigetragen hat. Nun haben die Reise- und Kontaktbeschränkungen den physischen internationalen Austausch zunächst fast vollständig zum Erliegen gebracht. Auch wenn ein Teil der Aktivitäten in den virtuellen Raum verlegt werden konnte, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein Teil der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die existenziell auf den Zugang zu ihren jeweiligen Forschungsgegenständen im Ausland angewiesen sind, diesen fast gänzlich verloren haben. Disziplinen wie etwa die Archäologie, Ethnologie, Geologie, Ökologie oder die Geschichts- und Regionalwissenschaften stießen an harte Grenzen, wenn etwa archäologische Stätten, Bibliotheken oder bestimmte Ökosysteme, die allesamt im Ausland liegen, mittel- bis langfristig nicht länger erkundet werden konnten. Große Anstrengungen waren und sind immer noch erforderlich, um kreative und funktionale Lösungen für eine Weiterarbeit zu entwickeln. Ohne den in der Wissenschaft wichtigen persönlichen Austausch durch Kongresse, Austauschprogramme und Aufenthalte bei anderen Arbeitsgruppen ist der Aufbau von intensiven, vertrauensvollen Kooperationen und Netzwerken schwieriger.

Dies alles trifft vor allem junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf befristeten Stellen. Angesichts der langen Dauer der Pandemie ist beispielsweise eine Verlängerung von Verträgen um drei oder sechs Monate zumindest in diesen Feldern oftmals nicht ausreichend. Auch in den Lebens- und Naturwissenschaften war und ist der Zugang zu vielen Laboren stark eingeschränkt, beziehungsweise eine längere Zeit gar nicht möglich. Hier liegt eine Verantwortung auf den Betreuenden, gemeinsam nach Alternativen zu suchen. Die Leitungen von Hochschulen und Forschungseinrichtungen sind gefragt, hier die derzeitigen rechtlichen Möglichkeiten maximal auszuschöpfen. Mit Blick auf den nächsten Karriereschritt des Nachwuchses sind diese Begrenzungen systematisch in der Bewertung der wissenschaftlichen Produktivität und die Einschätzung des Lebenslaufs junger Menschen zu berücksichtigen. Ansonsten läuft das Wissenschaftssystem Gefahr, junge, gut ausgebildete und kreative Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu verlieren.

Das Wissenschaftssystem in Deutschland wird den Einbruch im internationalen Austausch und in der internationalen Mobilität durch die Pandemie grundsätzlich gut verkraften, so unsere Einschätzung. Denn Deutschland war und bleibt ein attraktiver Standort für internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die Anstrengungen der letzten Jahre haben sich gelohnt: Hervorragende Forschungsbedingungen, verlässlich finanzierte Forschungsinfrastrukturen und im weltweiten Vergleich singuläre Verbundstrukturen wie zum Beispiel Exzellenzcluster ziehen exzellente Köpfe an. Nicht zu unterschätzen ist auch die grundgesetzlich geschützte Freiheit von Forschung und Lehre. In einer neuen Balance von physischer und virtueller Interaktion wird der zeitweilige Einbruch der internationalen Mobilität und Netzwerkbildung abzufedern sein – vorausgesetzt, dass ein besonderes Augenmerk auf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der frühen Karrierephase liegt.

Allerdings dürfen die in der Pandemie sichtbar gewordenen politischen Rahmenbedingungen nicht in Vergessenheit geraten. Das Wissenschaftssystem ist seitdem – noch stärker als zuvor – mit einer fragiler werdenden internationalen Ordnung konfrontiert. Die globale Forschungs- und Gesundheitspolitik wurde nach einer ersten Phase der offenen Kooperation zu einem Feld, in dem Rivalitäten zwischen Großmächten und der Streit um Gesellschaftsentwürfe die Offenheit und die Intensität der Zusammenarbeit mehr und mehr bestimmten.

Diese Entwicklung bleibt nicht ohne Konsequenzen für Internationalisierung im globalen Kontext. In den letzten Jahren ist einigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie den wissenschaftlichen Einrichtungen bewusst geworden, dass ihre wissenschaftlichen Aktivitäten im Ausland politische oder wirtschaftliche Fragen mit betrafen. Die geopolitische Lage ist mit der COVID-19-Krise noch fragiler geworden. Vor diesem politischen Hintergrund gilt es, die unterschiedlichen Aktivitäten und Initiativen zur Förderung von globalen Kooperationen, Netzwerkbildungen, Studierenden- und Promovierendenaustauschprogrammen nachzujustieren. Das heißt: Das Zusammenspiel mit anderen Politikfeldern wie etwa der Wirtschafts- und Handelspolitik oder auch die fragiler werdende geopolitische Lage sind bei der Planung und Durchführung internationaler Kooperationen im Wissenschaftssektor systematisch mit zu berücksichtigen. Konkret gilt es, in Zukunft noch mehr Sorgfalt bei der Auswahl der Kooperationspartner, bei der Definition der Ziele und Interessen in der Zusammenarbeit sowie bei der Formulierung der Kooperationsbedingungen walten zu lassen. Die einzelnen Forschenden sollten sich Rechenschaft darüber ablegen. Darüber hinaus sind die politischen Akteure aufgefordert, Rahmenbedingungen und Leitlinien für Internationalisierungsstrategien zu entwickeln; den Forschungsorganisationen und -einrichtungen wie auch Hochschulen wird empfohlen, ihre eigenen Strategien daraufhin zu überarbeiten.

Leitmotiv: Resilienz

Das Wissenschaftssystem in Deutschland hat sich in der Krise als responsiv erwiesen. Obwohl Einschränkungen im Zuge der Pandemie-Eindämmung auch Hochschulen und Forschungseinrichtungen betrafen, haben sie ihre Arbeitsprozesse rasch neu organisiert und ihre Lehre mehr oder weniger vollständig in den virtuellen Raum verlagert. Mehr noch: Zügig wurden Forschungsaktivitäten auf das neue Feld ausgerichtet und mit hoher Geschwindigkeit Daten und Erkenntnisse über die Krankheit und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen generiert. Und zugleich zeigten sich – wie oben exemplarisch gezeigt – Defizite, Vulnerabilitäten und Herausforderungen, die vielfach bereits vor der Pandemie, unter anderem vom Wissenschaftsrat, identifiziert worden waren und nunmehr offen zu Tage traten.

Externe Ereignisse, deren Art, Zeitpunkt und Ausmaß vielfach kaum vorhersehbar sind, entwickeln enorme Auswirkungen auf die Gesellschaft. Angesichts dieser Unsicherheit wird die Bedeutung wissenschaftlicher Forschung als ein wesentliches Instrument einerseits zum Verständnis, andererseits zum Umgang damit noch steigen. Dies sowohl um die unvorhersehbaren Ereignisse zu bewältigen als auch um Strategien im Umgang mit bereits bestehenden gesellschaftlichen Herausforderungen wie dem Klimawandel zu entwickeln. Ein hohes Maß an Agilität, Responsivität und die Unterstützung von Risikobereitschaft ist auch in Zukunft notwendig, um diese zentrale Funktion von Forschung erfüllen zu können.

Vor diesem Hintergrund hat sich der Wissenschaftsrat gefragt, ob Wettbewerb und Effizienzsteigerung als Leitprinzipien ausreichen, um mit diesen Risiken und Herausforderungen umzugehen. In anderen Politikfeldern (unter anderem in der Sicherheitspolitik und im Anschluss an die Finanzkrise vor gut einem Jahrzehnt (2008) in der Wirtschaftspolitik) ist Resilienz zu einem weiteren Leitprinzip für die Organisation des jeweiligen Feldes avanciert. Der Begriff gilt vielfach als Modewort, was sicher mit seiner konzeptionellen Unschärfe zusammenhängt.

Entscheidend ist zunächst zu betonen, dass unter Resilienz nicht allein die Fähigkeit verstanden wird, nach einem plötzlich auftretenden exogenen Ereignis wie einer Pandemie oder einer Katastrophe wieder zum „alten Zustand“ zurückzukehren. Vielmehr zielt der Begriff gerade auf die Fähigkeit, Krisen zu antizipieren, sich auf sie vorzubereiten, sie zu bewältigen und gestärkt aus ihnen hervorzugehen. Damit geht das System in einen „neuen Zustand“ über. Moderne Gesellschaften sollten sich darauf einstellen, dass sich externe Schockereignisse oder abrupte Veränderungen nicht vermeiden lassen. In einer solchen Krisensituation ist es entscheidend, die Funktionsfähigkeit des Systems zunächst zu erhalten, was dem Forschungssystem in Deutschland gelungen ist. Jetzt geht es darum, weitergehende Lehren aus der Pandemie zu ziehen – bis auf die Ebene der Steuerung des Wissenschaftssystems.

Der Wissenschaftsrat schlägt daher vor, Resilienz als Leitlinie in den wissenschaftspolitischen Diskurs einzuführen und damit auch eine Weiterentwicklung der Steuerung des Wissenschaftssystem zu erzielen. Dafür bedarf es eines wissenschaftsspezifischen Resilienzbegriffs. Vor dem Hintergrund der Pandemie-Erfahrungen hat der Wissenschaftsrat sechs Elemente identifiziert, die zur Resilienz des Wissenschaftssystems als Ganzes beitragen. Neben der internen Pluralität und disziplinären Breite, was partielle Redundanzen einschließt, zählen als weitere Resilienzelemente sowohl die eingangs erwähnte Souveränität und Sicherheit im digitalen Raum als auch eine verlässliche öffentliche Finanzierung dazu. Zudem ist ein hohes Maß an Agilität erforderlich, um zügig auf externe Herausforderungen reagieren zu können. Netzwerke sind ein weiteres Element, um aufbauend auf vertrauensvollen Beziehungen gerade in Krisenzeiten zügig in den interdisziplinären Austausch oder in den Austausch mit unterschiedlichen Medien und mit politischen Akteuren treten zu können.

Und last but not least ist die Wissenschaftsfreiheit ein hohes Gut und ein wesentliches Element, um das Vertrauen in das Wissenschaftssystem nachhaltig aufrechtzuerhalten. Angesichts der geopolitischen Entwicklungen kann das Bemühen, diesen Wert in internationalen Kooperationen aufrechtzuerhalten, eine schwer lösbare Aufgabe sein und zum Teil Dilemmata erzeugen.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es noch zu früh, um zu entscheiden, wie die unterschiedlichen Resilienzelemente zu priorisieren oder welche weiteren in Zukunft zu ergänzen sind. Hier ist, wie gesagt, zusätzliche Forschung notwendig, aber auch ein intensiver wissenschaftspolitischer Diskurs.

Forschen nach der Pandemie: Was sollen wir aus der Krise mitnehmen?

Es darf nicht unser Ziel sein, einfach schnellstmöglich und unreflektiert zum Leben vor COVID-19 zurückzukehren. Das gilt für viele gesellschaftliche Bereiche, auch für das Wissenschaftssystem. Diese Krise sollte als Weckruf verstanden werden. Die Gesellschaften haben weltweit unterschiedliche Krisen zu bewältigen. Die hohe Dringlichkeit und das Maß der persönlichen Betroffenheit haben in der COVID-19-Pandemie dazu beigetragen, dass die Bereitschaft, aktiv Transformationen voranzutreiben, auch in Deutschland deutlich gestiegen ist. Auf dem Feld der Digitalisierung ist dies überall zu beobachten. Dies ist längst nicht in allen Krisen der Fall, besonders nicht in schleichenden wie der Klimakrise oder der Demographie- beziehungsweise Migrationskrise. Lassen Sie uns daher den Impuls aus der Pandemie nutzen,

  • um endlich die notwendige Kooperation über die Disziplin- und Organisationsgrenzen hinweg strukturell zu implementieren,
  • um das Wissenschaftssystem attraktiver für kreative Köpfe zu machen, vor allem für junge Menschen, die mutig neue Wege jenseits etablierter, auch sektoraler, Grenzen gehen können,
  • um es agiler aufzustellen, sodass einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie ganze Einrichtungen in Krisen ausreichend responsiv sind und in „normalen Zeiten“ Herausforderungen proaktiv angehen können, und
  • um es stärker mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen zu vernetzen, sodass wir mit guten Daten arbeiten und unsere exzellenten Ergebnisse zum Wohl des Gemeinwesens einsetzen können.

Wir wissen, dass sich gesellschaftliche Fragen nicht einfach in Wissensfragen übersetzen lassen – denn dahinter verbergen sich Werte- und Interessensfragen. Und umgekehrt benötigt gute Politik mehr als evidenzbasierte Forschung. Aber Wissenschaft bleibt zentral für ein demokratisches Gemeinwesen, um sich als Bürgerin oder Bürger unabhängig informieren und als politischer Akteur gut beraten sowie austauschen zu können. Auf diese Herkulesaufgabe müssen wir die jungen kreativen Köpfe vorbereiten!



Zu den Autorinnen

Anja Bosserhoff ist Lehrstuhlinhaberin für Biochemie und Molekulare Medizin der FAU Erlangen-Nürnberg sowie Vorsitzende der Wissenschaftlichen Kommission des Wissenschaftsrats.

Annette Barkhaus ist Stellvertretende Leiterin der Abteilung Forschung in der Geschäftsstelle des Wissenschaftsrats in Köln.